Streitfall Wählerfrust: Warum Befürworter einer völligen Abkehr von der Politik einer gefährlichen Illusion erliegen: eine Replik auf Franz Schandls "Lob der Politikverdrossenheit" (Standard, 26. 6.) .

* * *

Hand aufs (infarktgefährdete) Herz: Kennen Sie viele medizinverdrossene Ärzte und Patienten, die von Krankheit nichts mehr hören, sehen und wissen wollen? Wahrscheinlich gar keine, denn die einen leben von der Krankheit und die anderen leiden daran. Und haben Sie auch den Eindruck, dass wir alle immer kränker werden? Die Statistik sagt uns allerdings, dass wir (zumindest in den westeuropäischen Gesellschaften) immer länger leben. Gerade deshalb gibt es aber auch mehr Langzeitkranke und Pflegebedürftige.

Mit der Politik sollte es sich eigentlich ähnlich verhalten. Politiker leben von ihr, und Bürger sind von ihr betroffen. Wenn die einen versagen, sind die anderen zu Recht verdrossen. Aber - so sollte man meinen - ihre Unzufriedenheit müsste sich doch gegen bestimmte Politiker oder Institutionen richten und nicht gegen die Politik an sich, der sie ja so und so nicht entkommen? Doch wahrscheinlich erzeugt gerade demokratische Stabilität auch einen Bodensatz von allgemeiner politischer Verdrossenheit, gerade so wie uns Langlebigkeit altersbedingte Leiden beschert.

Drei Gruppen

Nach der niedrigen Wahlbeteiligung an der Europaparlamentswahl und dem Erfolg der Liste Hans-Peter Martin teilen sich die Kommentare in drei Gruppen: die erste sieht in beiden Phänomenen ein Alarmsignal für das Projekt der Demokratisierung der Europäischen Union, die zweite eine verständliche und gesunde Abwehrreaktion angesichts heimischer wie europäischer politischer Miseren, die dritte eine neue Normalität und fortschreitende Angleichung an amerikanische Verhältnisse.

Alle drei Diagnosen haben manches für sich und sollten vorsichtshalber in einem ganzheitlichen Therapieplan berücksichtigt werden. Absurd ist es jedoch, aus den Symptomen zu schließen, dass die Patienten nun endlich gesund seien, weil sie erkannt hätten, dass sie lediglich eingebildete Kranke gewesen waren. Denn, so klärt sie Franz Schandl im Kommentar der anderen auf, "Politikverdrossenheit ist (. . .) Ausdruck davon, dass die Macht der politischen Sphäre weit gehend Illusion gewesen ist und jetzt überhaupt verschwindet". Mir scheint gerade umgekehrt, dass das Verschwinden der Politik eine gefährliche Illusion ist und die Aufforderung zur politischen Abstinenz nur dazu beiträgt, das Spiel der Macht vor den neugierigen Blicken des Publikums zu schützen.

Antiquierte Vorstellung

Schandls These ist merkwürdig unzeitgemäß. Die 1990er-Jahre waren - je nach Standpunkt des Betrachters - eine Zeit der Ängste oder Träume, dass Globalisierung Politik entweder nicht mehr zulässt oder überflüssig macht. Heute erleben wir die Rückkehr der Politik, auch in ihrer Clausewitzschen Fortsetzung mit anderen Mitteln, d. h. als Krieg. Wer darauf mit der Aufforderung zum Rückzug reagiert, betreibt immer die Sache jener, die gerade am Zug sind.

Versteht Schandl nicht, dass der Irakkrieg und das Projekt der US-Neokonservativen einem Willen entspringen, der sich keiner politikfremden Rationalität unterwirft? Diese Politik ist weder reduzierbar auf die Erdölinteressen texanischer Konzerne, noch dient sie amerikanischen Sicherheitsinteressen im Kampf gegen den Terror.

Ihr Ziel ist die Transformation der ökonomischen und militärischen Hegemonie der USA in politische Macht jenseits der Staatsgrenzen. Und - wenn's ein paar Schuhnummern kleiner sein darf - fällt Schandl nicht auf, dass selbst im Diskurs der österreichischen Konservativen nicht mehr von "Sachzwang" die Rede ist, sondern von der Notwendigkeit politischer Gestaltung, die sich praktisch vor allem darin manifestiert, das eigene Personal nachhaltig in Machtpositionen zu verankern?

Spiel der Macht doppelt gezähmt

Die große Errungenschaft des demokratischen Rechtsstaats ist es, das Spiel der Macht doppelt gezähmt zu haben: durch die Regieanweisungen des Rechts und die politische Beteiligung des Publikums an der Auswahl der Schauspieler. Keiner dieser beiden Schutzmechanismen kann durch den anderen ersetzt werden. Wenn sich die Zuseher gelangweilt von der Demokratie abwenden, dann schreiben sich die Schauspieler ihre Rollen selber und dann ist auch der Rechtsstaat in Gefahr. Freilich haben Kritiker, die den Tod dieses Theaters verkünden, in einem Recht: Das Publikum wird sich nur dann beteiligen, wenn es merkt, dass im Stück auch von ihm die Rede ist.

In dieser Hinsicht ist die Inszenierung des europäischen Einigungsdramas tatsächlich jämmerlich schlecht. Da werden im Wahlkampf 25 getrennte Bühnen aufgestellt, auf denen gleichzeitig dasselbe Stück gespielt wird. Es zeigt ein nationales Scheingefecht gegen einen unsichtbaren Gegner: die europäische Bürokratie. Hinter den Kulissen, im gut abgeschirmten Kern der europäischen Macht, sitzen aber nicht die gewählten Europarlamentarier, sondern wieder die nationalen Regierungen, die sich zu Hause auf Brüssel ausreden, wenn sie unpopuläre Entscheidungen treffen.

Fehlendes Wir-Gefühl

Die Dominanz konservativer Regierungen im heutigen Europa hängt auch damit zusammen, dass es deren Repräsentanten viel besser verstehen, Zukunftspathos und Wir-Gefühle für ihre Projekte zu mobilisieren. Die kontinentaleuropäischen Sozialdemokraten sind dagegen nach dem Scheitern der großen Erzählungen vom Sozialismus skeptisch und konservativ geworden. Sie sehen ihre wichtigste Aufgabe darin, den Sozialstaat durch Umbau zu bewahren.

Die zivilgesellschaftliche Linke wiederum begnügt sich mit den kleinen Narrativen eines symbolischen Widerstands gegen etwas, dessen Bezeichnung als globales System oder Imperium schon die eigene Hoffnungslosigkeit signalisiert. Was alle eint, ist das Fehlen einer europäischen Perspektive, aus der demokratische Beteiligung der Bürger selbstverständlich erscheinen würde.

Nur gut erzählte Stücke haben Aussicht auf Erfolg

Dazu genügt nicht die Aufklärung, dass 70 Prozent der Gesetze auf europäischer Ebene gemacht werden. Es bedarf tatsächlich eines europäischen Wir-Gefühls jenseits der Beschwörungen des christlichen Abendlandes. Gerade weil demokratische Politik eine Inszenierung ist, in der das Publikum zugleich Jury ist, haben nur gut erzählte Stücke Aussicht auf Erfolg. Aber statt europäische Geschichte(n) darzustellen, die dem Integrationsprozess Sinn geben könnte(n), bietet man überwiegend politische Realsatiren. Deren Unterhaltungswert befördert lediglich das Geschäft der Massenmedien.

Eine demokratische Bändigung der Macht braucht andere Drehbücher, in denen Bürger nicht nur als verdrossene kleine Männer vorkommen, sondern als Frauen und Männer, die an einem historisch ziemlich einzigartigen und bisher doch recht erfolgreichen Unternehmen beteiligt sind. (DER STANDARD, Printausgabe 28.6.2004)