Jouni Laurila gehört zu den wenigen Kapitänen dieser Welt, deren Schiffe auf hoher See von Rentieren überholt werden. Das liegt zum einem am Fahrtgebiet, zum anderen am Tempo: Laurila kommandiert den 10.000 PS starken Eisbrecher "Sampo", der im äußersten Nordzipfel der Ostsee vor der finnischen Küste eingesetzt wird und seinen Heimatliegeplatz in Ajos bei Kemi hat. Trotz der kräftigen Dieselgeneratoren bringt es das Schiff im Schnitt auf weniger als zehn Stundenkilometer. Das 40 bis 60 Zentimeter dicke Eis fordert seinen Tribut. Laurila ist bei Wind, Wetter und Eiseskälte ohne freien Tag von Dezember bis Ende April täglich im Dienst. Dafür hat er den Rest des Jahres Urlaub und kann sich um Familie, Haus und Garten in Südfinnland kümmern: "Diese Regelung gefällt mir gut, und noch einen Grund gibt es, warum ich diesen Job mache: Jeder Tag hier oben ist völlig anders, jeder ist spannender als der vorher. Nichts ist Routine. Die Szenerie wechselt alle paar Stunden: Mal türmt der Wind das Ostsee-Eis zu Bergen auf, mal laufen Rentiere neben dem Bug her und springen von Scholle zu Scholle. Mal beobachten wir durchs Fernglas Seehunde." Bis vor ein paar Jahren fuhr der Seebär mit Vollbart, in den Sehschlitze für die Augen hineingeschnitten zu sein scheinen, noch im Liniendienst zwischen Südfinnland und dem Mittelmeer. Der Kontrast der Fahrtgebiete könnte kaum größer sein.

"Sampo" wurde 1960 in Dienst gestellt. Das Datum prangt noch heute auf der Schiffsglocke am Bug. Dabei hat sich das Schiff längst zur Touristenattraktion gewandelt und kombiniert das Nützliche mit dem Lukrativen, Eisbrechen mit Urlauberfahrten: Für umgerechnet knapp 1900 Schilling ( 138,10) können Tagesbesucher fünf Stunden lang auf Eisbrecher-Safari gehen - Vollpension an Bord, An- und Abfahrt per Motorschlitten, Brückenbesichtigung und auf Wunsch Eislochbaden im wasserdichten Thermo-Anzug in der Fahrrinne inklusive.

Die Idee dazu hatte der Bürgermeister von Kemi, der Touristen mit einer ungewöhnlichen Attraktion in den kleinen Ort an der Nordküste des Bottnischen Meerbusens locken wollte, der bis dato einzig von der holzverarbeitenden Industrie lebte. Das Konzept ging auf. Inzwischen hat die "Sampo" täglich bis zu 150 Gäste an Bord und startet auf Wunsch zu Charterraten zwischen 40.000 und 70.000 Finnmark (ca. 91.000-160.000 Schilling bzw. 6613,23-11.627,65) auch zu privaten Törns durchs Ostsee-Eis. Firmen sind es, die solche Ausflüge im Rahmen von Betriebsfesten buchen oder in den Salons an Bord Seminare zur Mitarbeiterschulung abhalten und mit einem ungewöhnlichen Erlebnis würzen wollen. Im Gästebuch haben sich Passagiere aus Australien, Togo, Ecuador und Saudi-Arabien verewigt. Im Sommer unterdessen ist viel Zeit, die Maschinen des Eisbrechers neu zu ölen: Er liegt dann als Restaurant-Schiff vor Anker.

Ein Koloß schiebt sich durch das Eis

Es scheuert, quietscht, knirscht und knackt, wenn "Sampo" den Kai von Ajos verläßt und den Kampf gegen die Naturgewalten aufnimmt. Nicht viel schneller als im Schritt-Tempo wälzt sich der knapp vierzig Jahre alte Koloß über das Eis. Der speziell geformte Bug schiebt sich auf die Schollen und bringt sie mit seinem Gewicht von 3540 Tonnen zum Bersten. Das Schiff rutscht quasi wie ein schwerer Schlitten über die Eisdecke hinweg. Wie ein Keks kracht sie vor den Augen der Passagiere auseinander, die dickvermummt in Thermo-Anzügen über die Reeling starren und immer wieder von einem Fuß auf den anderen steigen, um bei minus 30 Grad Außentemperatur die Durchblutung in Schwung zu halten. Nur um den Fotoapparat fürs Erinnerungsbild auszulösen, werden die Finger aus dicken Handschuhen hervorgeholt und gleich wieder tief darin versenkt. Wem es im Freien zu kalt ist, der verfolgt das Geschehen aus der Cafeteria und drückt die Nase an Panoramascheiben platt.

Hinter sich läßt "Sampo", benannt nach der Zaubermühle im finnischen Nationalepos "Kalevala", eine Spur aus kleinen Klümpchen von der Schiffsschraube zermahlenen und gequirlten Eises. Dabei sind die eigentlichen Fahrtgeräusche überraschend leise. Ab und zu nur rumpelt es, wie wenn ein Auto über eine Bodenwelle fährt. Vier Dieselmotoren treiben das 75 Meter lange, 17,4 Meter breite und theoretisch bis zu sechzehn Knoten schnelle Schiff an.

An diesem Morgen ist das Boot ersehnter Retter für einen Frachter mit Heimathafen Kingston auf Jamaica: Die "Rocco" hat es nicht allein durchs Eis geschafft und ist ein paar hundert Meter vor den Kaianlagen steckengeblieben. Dank fürs Freischaufeln ist ein fröhliches Hupkonzert durch den Schornstein, das von "Sampo" mit markigem Tuten erwidert wird - so etwas wie "alles klar, Kumpel" in der Sprache eines Schiffes.

Zwei Fahrtstunden vor der Küste läßt Jouni Laurila die Maschinen stoppen und die Gangway ausfahren. Wie Astronauten in luftgepolsterten Thermoanzügen vermummt trottet ein gutes Dutzend Mutiger ungelenk die Treppe hinab Richtung Ostsee-Eis - bereit zum Bad im eiskalten Wasser der gerade aufgerissenen Fahrrinne am Heck des Schiffes. Langsam gleiten die Verwegenen ins pechschwarze Dunkel des Meeres, treiben in ihren wasserdichten Anzügen wie Luftblasen auf der Ostsee umher und jubeln - die einen vor Freude über den eigenen Mut, andere vor Erleichterung, nicht unterzugehen. Zur Belohnung gibt es anschließend einen wärmenden Grog oder Kaffee auf dem Eis und später eine Erinnerungsurkunde vom Kapitän.

Andere Passagiere haben die Zeit zum Spaziergang übers Eis genutzt, sind vorgelaufen zum Bug und haben einmal anerkennend an die robuste Außenhaut des Eisbrecher-Kolosses geklopft. Jouni Laurila unterdessen ist an Deck geblieben. Er hat eine gute Erklärung dafür: "Als Kapitän muß ich als letzter von Bord und kann nicht mal eben aussteigen." Und einen Moment später verrät er, daß ihm das auch ganz recht ist. Aus Eislochbaden mache er sich nichts, viel zu kalt sei das. Den letzten Badestopp hat er auf einem Mittelmeertörn eingelegt. Bei anderen Temperaturen. (Der Standard, Printausgabe)