Hektisches städtisches Treiben ist in den Gassen der befestigten Altstadt dennoch undenkbar. Nur selten durchbricht ein Auto, Marke Lada, die Tallinnsche Trance. Dann herrscht wieder gediegene Stille zwischen den Kaufmannshäusern aus dem 15. Jh. mit ihren großen Lagerräumen oberhalb der eigentlichen Wohnung. Altehrwürdige Stiegenaufgänge, schmiedeeiserne Balkone und Straßenlaternen erleichtern die gedankliche Reise in die Vergangenheit.
Jede Menge finnische Tagestouristen zieht nicht nur die sprachliche Verwandtschaft – Finnisch und Estnisch sind gegenseitig verständlich – hierher. Das für Westverhältnisse lange Zeit niedrige Preisniveau hat die touristische (F)In(n)vasion schon bald nach der Unabhängigkeit des Baltenstaates und nunmehrigen EU-Kandidaten losgetreten.
Wohlwollend und gut
Weiter im Conversations-Lexikon über die Esten: „Sie sind wohlwollend, gutmüthig und religiös, der protestantischen Kirche ergeben, dabei aber auch von manchen Lastern, namentlich von Jähzorn, Rachsucht und Hang zur Widersetzlichkeit, nicht frei, woran jedoch die frühere fast gänzliche Vernachlässigung des Volks von seiten seiner Beherrscher und Lehnsherren schuld ist.“ Und deren waren nicht wenige, sodaß heute ein wahrer Nationalitäten-Cocktail den Landstrich bevölkert.
Zwar zogen nicht wenige Russen, wegen dem neuen Zwang, estnisch zu lernen, die Heimkehr ins Kernland vor. Die Verhältnisse von vor der sowjetischen Besatzung sind aber noch nicht wiederhergestellt. Trotz Hochkonjunktur für eigene nationale Symbole weht vom Tallinner Rathaus nicht die blau-schwarz-weiße Nationalflagge, sondern eine von unzähligen Wetterfahnen. Das deutsch anmutende Gebäude aus dem Jahr 1404 mit seinem barocken Turmhelm thront über einem Platz, von dessen Hausgiebeln keiner dem anderen gleicht.