Herr Franke trägt Lederschürze und frohe Miene. Wer ein Stück Kuchen bestellt, erhält zwei, frisch vom Backblech und noch warm. Der Wirt vom Gasthof Franke in Juchhöh bei Hirschberg ist noch zehn Jahre nach der Wende begeistert über zivile Gäste. Früher lag sein Lokal im Sperrgebiet, und die Gäste waren nur Grenzsoldaten, die mit ihrer Kalaschnikow Einkehr hielten. Nun kommen Busgruppen, Individualreisende, und Herr Franke streicht die Lederschürze glatt und plaudert mit seinen Gästen. Sein Lokal ist urig: deutsche Eiche, deutsches Liedgut und ein deutscher Wirt, der das Lächeln nicht verlernt hat.

Das tröstet nach dem Anblick von Mödlareuth unten im Tal. Der Gasthof lebt vom Grenztourismus, denn im Freilichtmuseum Deutsch-deutsches Museum ist heute noch das Mauermonstrum zu besichtigen, das 28 Jahre lang seinen Schatten auf das 50-Einwohner-Dorf warf. US-Ex-Präsident George Bush stand einst auf bayerischer Seite, beäugte von der Plattform den realen Sozialismus und taufte Mödlareuth "Little Berlin". Hier gab es eine Mauer, wie in der Hauptstadt, aber keinen Checkpoint. Die Westdeutschen konnten die Ostdeutschen bestaunen wie Tiere im Zoo, die das Militär gezähmt hatte. Es war ihnen bei Strafe verboten, Blickkontakt aufzunehmen oder zu winken. 700 Meter lang war die Mauer aus Fertigbetonteilen, 3,20 Meter hoch, rund um die Uhr bewacht und nachts in gleißendes Licht getaucht. Die festesten Seile und längsten Leitern, im kleinen Museum zu sehen, halfen nicht mehr, um aus dem Arbeiter-und-Bauern-Paradies herauszukommen. Nur eine Familie schaffte es noch - mit einem Heißluftballon.

Mödlareuth ist kurios geblieben: Eine Hälfte ist bayerisch, eine thüringisch, auf der einen Seite des Tannbachs heißt es "Grüß Gott", auf der anderen "Guten Tag". Es gibt zwei Bürgermeister, unterschiedliche Postleitzahlen, Telefonvorwahlen und Fahrzeugkennzeichen. Nach der Grenzöffnung wurden mit Sekt, Bier und original Thüringer Rostbratwurst gemeinsame Feste gefeiert. Doch nur an Herrn Frankes Kuchentheke ist bisher zusammengewachsen, was zusammen gehört.

1393 Kilometer lang war die einstige deutsch-deutsche Grenze. Vom Dreiländereck zwischen Sachsen, Bayern und Tschechien durch Süd- und Westthüringen, den Harz, die Altmark und das Elbuferland bis in die Lübecker Bucht. Wo einst 558 Menschen ihr Leben verloren, ist der frühere Grenzverlauf teilweise nur noch in Pfadfindermanier auszumachen. Aus dem Trauma der bestgesicherten Grenze der Welt wurde ein Traum in Grün. Mitten durch Deutschland zieht sich heute ein Urwald, bis zu fünf Kilometer breit, und nirgendwo kann man hierzulande besser träumen als im Nachwende-Wildwuchs, von keinem Forstamt gestutzt. Das Ex-Grenzland fiel dem Bundesvermögensamt zu und bleibt als Flächendenkmal erhalten. Wanderer, die den einstigen Todesstreifen ablaufen, brauchen rund zwei Monate. Melancholiker haben viel Platz zum Brüten, und Paare, die Zweisamkeit suchen, finden ein Plätzchen. Alle teilen es mit Flora und Fauna, die hier so stark sind wie nirgendwo in Deutschland. Heerscharen geflügelter Wesen nisten seelenruhig in einstigen Wachtürmen, Insekten, Amphibien und Reptilien fanden hier ein Zuhause, das Wild eroberte sich einen neuen Lebensraum. Am auffälligsten ist die Massenrückkehr der Vögel, darunter solche, die auf der Liste der vom Aussterben bedrohten Tiere stehen. Und nirgendwo schmecken die wilden Brombeeren so gut wie in diesem Garten, zu dem der Zugang so lange verboten war.

Philippsthal an der Werra ist ein Fachwerkort, wo die Natur die Führungsoffiziere zum Verzweifeln brachte. Achtmal berührte der verschlungene Werra-Lauf die deutsch-deutsche Grenze. Die Grenzer waren agitatorisch so aufgeputscht, dass sie selbst dumpf mampfende Kühe, die über Grenzmarkierungen trotteten, stellten und mit gestreckten Waffen abführten. In diesem Ort durchschnitt die Grenze sogar ein Haus - sie verlief mitten durch die Hossfeldsche Druckerei.

Bedrückt waren die Bewohner von Hötensleben in Sachsen-Anhalt, wenige Kilometer südlich des großen Grenzübergangs Marienborn: Ihre Häuser standen direkt an der Demarkationslinie, an der sich beide Weltmächte gegenüberstanden. Und stehen immer noch da, denn Mauer und Stacheldraht sind heute denkmalgeschützt. Doch Freiluftparties mit Live-Musik und Wrestlingfights finden statt, Harley-Davidson-Trupps lassen ihre Maschinen aufheulen, aus einem Wohnwagen heraus wird frisches Obst verkauft. Im einstigen Wachturm stehen Ausflügler und laben sich an der Landschaft, die hier schwingt und buckelt wie die Toskana, und an den barbarischen Zäunen entlang, die einen Hügel hinauf mäandern und dann im Wald verschwinden, traben Rudel bunter Jogger, und Mountainbiker, die über den Lochbeton des Kolonnenweges für die Militärtrabis brettern, holen sich ihren Adrenalinkick.

Das hessische Bad Sooden-Allendorf besticht mit mittelalterlichem Gassengewirr, mit strassenweit aufgeschminkten Fachwerkhäusern im Geranienfeuer, und im Werratal-Restaurant gibt es Thüringer Biere und einen bemerkenswerten Service. Das hat der Aufschwung West geschafft. Der altehrwürdige Kurort litt unter der deutschen Teilung, weder Kurer noch Kurschatten mochten am Stacheldraht relaxen. Nun sündigen sie wieder im Gasthof bei deftiger Kost, flirten an den Tresen. Auf den Hügeln über dem Städtchen zeigt das Grenzmuseum Schifflersgrund eine originale Grenzanlage, eine Fahrzeugschau, und selbst der Fluchtweg eines verzweifelten Akademikers ist rekonstruiert worden. Wer das gesehen hat, weiß alles über die Grenze.

Idyllisch schmiegt sich die Dorfrepublik Rüterberg bei Schnakenburg, deren Bewohner im Herbst 1989 nach Schweizer Vorbild ihre Unabhängigkeit ausgerufen hatten, in eine Elbbucht. Lange herrschte im Dorf Zugangssperre, niemand durfte an die Elbe. Teile des "Grenzsicherungssystems" blieben stehen, am Flussufer wird auf rustikalen Bänken Picknick gehalten, Motorboote landen, ein Radwanderweg ist entstanden, und in der Elbklause wird gutbürgerliche Küche serviert. Früher durften nicht einmal Verwandte die Rüterberger besuchen, die zudem von 21 bis 6 Uhr mit Ausgangssperre belegt waren. Damals sang Wolf Biermann: "Ich möchte am liebsten weg sein. Und bliebe am liebsten hier." Von den Rüterbergern sind fast alle geblieben. Roland Mischke []

Der Autor lebt als freier Journalist in Dietzenbach bei Frankfurt.

Info: Arbeitsgemeinschaft Grenzmuseen, Tel. 004992 / 95 13 34; Unterkunftstipps: Sonneberg: Hotel Schlossberg, Tel. 00493675 / 733 00; Eisenach: Schlosshotel, Tel. 00493691 / 21 42 60. Freilichtmuseum Deutsch-deutsches Museum, Töpen-Mödlareuth, Tel. 004992 / 95 13 34, tgl. 9 bis 18 Uhr; Grenzmuseum Schifflersgrund, Tel. 004956 / 52 37 02, tgl. 10 bis 17 Uhr.

© DER STANDARD, 05. November 1999