Von den Wiener Festwochen auf die Suche nach neuem Theater in den Osten geschickt: Stefan Schmidtke, hier in Pose, sonst auf Reisen durch Russland, Tschechien, Slowakei, Bulgarien, Rumänien, Serbien, Montenegro Polen etc.

Foto: A. Bardel
Wien - In der Reihe forumfestwochen ff hat die Schauspielabteilung der Wiener Festwochen vor drei Jahren mit dem ehemaligen Ostblock einen ganzen Theaterkontinent aufgerissen, Neugierde in uns eingepflanzt und dabei unvorstellbare Orte wie das ostsibirische Irkutsk oder die Halbinsel Kamtschatka Museumsquartier- oder Kosmostheater-Gästen näher gebracht.

Die Netzhaut der hungrigen Augen verwies das Gesehene direkt ans Gehirn, denn ein explizit dokumentarisches Theater war hier gefunden, das sich sowohl mit ästhetischen Konzepten befasste als auch sich ganz konkreter Umstände postkommunistischen Lebens annahm. Heuer ergab das das Motto "Von der Poesie der Moral und andere Paradoxien". Der von den Festwochen dafür weit in den Osten gesandte Mann heißt Stefan Schmidtke und ist durch seine gewaltige (Simultan-)Übersetzertätigkeit jedem Ohrenstöpsel-User stimmlich bekannt.

Während mit einem Cosí fan tutte-Gastspiel der Neuköllner Oper heute die nächste forumfestwochenff-Premiere zu sehen ist, blicken wir derzeit noch auf drei mit mäßiger Begeisterung aufgenommene Inszenierungen aus der Ukraine bzw. Russland zurück, die Schmidtke der Schauspieldirektorin Marie Zimmermann erfolgreich vorgeschlagen hat:


Kein "Best of"

Der Bilder- und Bewegungsfuror Odin den Iwana Denissowitscha des Andrej Scholdak aus Charkow, ein Laufstegtheater zum Terrorismus der Brüder Presnjakow und eine Sauerstoff-Textbombe des Moskauer theater.doc: Mit Ausnahme von Letzterer ließen diese Ratlosigkeit ob einer zum Teil nachholenden Ästhetik zurück. Man stelle aber die falschen Ansprüche, wenn man "the best of the best im Eventzirkus" erwarte, meint Schmidtke: "Wir laden nicht die kleinen Stars von morgen ein. Sondern wir geben eine Einladung aus ans Denken und Fühlen am zeitgenössischen Theater."

Und dazu gehört (in den GUS-Staaten) nun einmal vehement die Befragung des gegenwärtigen Lebens: Inwiefern widerspricht mein Lebensziel den derzeit geltenden gesellschaftlichen Maßgaben? Vor allem die Frage nach der Moral, so Schmidtke, nimmt gerade jetzt einen hohen Stellenwert im Osttheater ein.

Schmidtke, dem seit seinem Studium in Moskau und durch permanentes Reisen nämliche Ländern vertraut sind, diagnostiziert: Während sich in Russland bereits wieder Kunst gegen die im Zuge der so genannten "gesteuerten Demokratie" neu installierten Kontrollmechanismen (Stichwort Pressefreiheit) formiert, wandeln Künstler in anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion auf noch ganz indefinitem Terrain.

Die hohen Erwartungen an die russische Theaterkunst nähren sich irrtümlich aus einer Vision vom einmal groß gewesenen Moskauer Künstlertheater, das durch den psychologischen Realismus Tschechows weltberühmt wurde, nun wieder andere Wege beschreitet. Heute sind es Leute wie Jewgenij Grischkowez, Merle Karusoo oder Iwan Wyrypajew, die den einst hoch geschraubten Beruf des Regisseurs aus einem neuen Schöpfungsprozess heraus auktorial besetzen.

Schmidtke: "Als die Glocke hochgehoben wurde und der Ostblock gewissermaßen implodierte, gab's einen Wechsel in den Geschwindigkeiten: Während sich das gesellschaftliche Leben rapide geändert hatte, geriet das Theater auf die Ausrangierbahn. Dinge, die man vorher nur unter vorgehaltener Hand sagen durfte, standen plötzlich in der Zeitung!"

Denkt man die letzte Premiere von forumfestwochenff mit, Bojana Cvejic' und Jan Ritsemas Pipelines, ein aus bloßen Redefiguren bestehendes Diskurstheater aus Brüssel, so misst diese Festwochen-Reihe hauptsächlich Distanzen aus: Extreme Nähe sowie Ferne im zeitgenössischen Theater.


Mehr Zeit, mehr Geld

Wann werden die Russen also kommen? - Schmidtke dazu: "Man meint, aus dem riesigen Etwas, das vor der Wiener Haustür liegt, müsste doch viel Geniales kommen. Aber: Man braucht mehr Zeit, neue Strukturen, damit Künstler arbeiten können, freie Häuser, Gelder, die erwirtschaftet werden müssen. Wir zeigen dazu die Ansätze."

Inwiefern kann das hier von Interesse sein? "Insofern, als die Dinge bei uns auch nicht gegessen sind! Das Problem ist eher, dass diese Gesellschaften von Querverwerfungen durchrissen werden, die genauso auf uns zukommen, von denen wir aber noch nichts wissen (wollen). Das Bild dreht sich gerade."
(DER STANDARD, Printausgabe, 3.6.2004)