Wien - Marcia wird gekidnappt, nicht ganz gegen ihren Willen. Untertags verkauft sie Unterwäsche in einem Geschäft in Buenos Aires, abends sitzt sie einsam vor dem Fernseher. Dann sprechen sie zwei Gören namens Mao und Lenin auf der Straße an: "Willst du ficken?", fragt die eine, aber nicht nur weil Marcia unscheinbar und dick ist, fasst sie das Angebot zuerst bloß als Provokation auf.

Tan de repente/Aus heiterem Himmel, das Spielfilmdebüt des jungen argentinischen Regisseurs Diego Lerman, versteht seinen Titel ganz wörtlich. Es geht von einer zufälligen Begegnung aus, einer plötzlichen Laune gewissermaßen, und bleibt auch im weiteren Verlauf offen für abrupte Wendungen und surreale Momente, ohne sich dabei allzu weit vom kulturellen Hintergrund seines Landes zu entfernen.

Das liegt einerseits an Mao und Lenin, die impulsiv handeln und Marcia etwa kurzerhand auf einen Trip entführen: ans Meer, weil sie es noch nie gesehen hat. Es ist aber auch eine Frage des Stils: Die grobkörnigen Schwarz-Weiß-Bilder des Films reiht Lerman in sehr lakonischem Rhythmus aneinander, was ihm schon öfter den Vergleich mit den frühen Arbeiten von Jim Jarmusch eingebracht hat.

"Jarmusch war eigentlich keine eindeutige Referenz, obwohl ich seine Filme sehr schätze", erzählt der Filmemacher, der für Tan de repente gleich mehrfach ausgezeichnet wurde. Den dokumentarischen Gestus wie auch den ambivalenten Blick auf Lebensrealitäten teilt seine Arbeit mit anderen Beispielen des neuen argentinischen Kinos, mit Filmen von Lucrezia Martel oder Pablo Trapero.

Dennoch fühlt sich Lerman keiner Gruppe zugehörig: "Man merkt zwar, dass dem argentinischen Kino mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Aber eigentlich versucht jeder Filmemacher sein eigenes Projekt zu verwirklichen. Seit dem Wirtschaftskollaps ist das ja fast unmöglich geworden. Ich wollte einen Film machen, in dem alle möglichen Dinge passieren. Wo merkwürdige Ereignisse nicht nur erahnt werden können, sondern tatsächlich zu sehen sind."

Super-8-Film

Lerman bezieht sich dabei auf die durchbrochene Linearität von Tan de repente: Denn die Reise der drei Mädchen geht weiter, zunächst ziellos per Autostopp. Sie treffen auf andere Figuren wie etwa eine Meeresbiologin. Oder werden in einer rätselhafte Szene mitten in der Nacht mit einem sterbenden Mann auf der Straße konfrontiert. Das Roadmovie kommt schließlich in der Provinzstadt Rosario zum Stehen, wo Blanca, die Großtante Lenins, lebt und Tan de repente zu einem Beziehungsreigen wird, in dem die Identitäten in Bewegung geraten.

"Der Film ging von einem Super-8-Film aus, den ich davor gedreht habe. Er behandelte den Teil bis zur Fahrt ans Meer", erläutert Lerman, "Die Idee war, die Figuren an ein Haus zu führen, in dem sie mit anderen in intensiveren Austausch treten - wir haben sie eine funktionale Familie genannt." Dort erhalten auch Haltungen der Mädchen stärkere Konturen. Ein Austausch setzt ein. Mao und Marcia haben Sex, Kleidungen werden gewechselt.

Lerman behält den lapidaren Tonfall bei, aber die äußere Bewegung wird durch eine innere zwischen den Figuren abgelöst: "Bei manchen ist sie unterschwellig, sodass man sie nicht so klar sehen kann, bei anderen tritt sie mehr an der Oberfläche in Erscheinung. Darum geht es: Um diese permanente Bewegung, diesen Wechsel von Identitäten und Einstellungen. Jede Sache und jeder Mensch wirkt sich verändernd aus."

Daraus können neue Bindungen hervorgehen, die Tan de repente aber auf ganz beiläufige Weise nur andeutet. Er bleibt ein Film der ephemeren Beobachtungen, der kurzen Momente von Glück oder auch Schwermut. Wäsche wird aufgehängt, Schnaps getrunken, Pasta gekocht und immer wieder geraucht. Lerman verweilt auf den Gesichtern seiner Darsteller, reduziert das Tempo und vermag darüber zu zeigen, wie sich eine friedvolle Ruhe einstellt, bevor wieder ein neuer Aufbruch ansteht. (DER STANDARD, Printausgabe 01.06.2004)