DBC Pierre: Jesus von Texas.
Aus dem Englischen von Karsten Kredel. €19,90/384 Seiten. Aufbau-Verlag, Berlin 2004.

Foto: Buchcover

Der deutsche Philosoph Manual Cunt, zünftig übersetzt mit "handbetriebene Fotze", den man da neulich im Unterricht durchgenommen hat, habe schon Recht: "Gib den Leuten, wonach sie verlangen." Moralischer Imperativ bedeutet auch: Die Welt will betrogen sein! Vernon Little, der 15-jährige Held dieses furiosen Romandebüts des in Mexiko-City aufgewachsenen Briten, Sohns aus reichem Hause, früheren Drogenfressers, Betrügers und Spielers Peter Warren Finlay, wird am Ende vor allem eine Erkenntnis mit nach Hause nehmen. Bevor sein mexikanischer Freund Jesus Navarro an der High School von Martirio, Texas, Amok läuft, zwei Hand voll Leute erschießt und sich dann selbst richtet, erläutert er Vernon God Little (so der Originaltitel) noch, was man sich unter Kants Satz aus dessen Kritik der reinen Vernunft heute vorzustellen hat. Von wegen, dass einem "niemals ein Ding anders, als in der Erscheinung vorkommen kann." Jesus sagt, dass "nichts tatsächlich passiert, solange man es nicht passieren sieht." Und er meint das Fernsehen.

Der eigenbrötlerische Vernon Little, der den Amoklauf sozusagen verpasst, weil er gerade auf einer Schutthalde nahe der Schule beim Schwänzen des Unterrichts seine große Not verrichtet, wird als Überlebender der Wahnsinnstat und einziger Freund des toten Attentäters sehr bald Hauptverdächtiger. Und er wird als einziger Überlebender zum Wohl der Einschaltquoten von allen Beteiligten, die an seinem Ruhm im Fernsehen mitnaschen wollen, recht schnell zum Mörder hochstilisiert. Von einer Umwelt, die Fernsehen aufgrund fehlenden Eigenerlebens und -lebens in tristen Vororten von noch tristeren Kleinstädten gern mit der wirklichen Welt da draußen verwechselt. Am Schluss wird der unschuldige und an der Ungerechtigkeit der Erwachsenen schier verzweifelnde Vernon jedoch errettet werden. Weil er sich selbst rettet. In einer Welt voller hier recht drastisch als Monster, die die Provinz gebiert, dargestellter Mitmenschen erkennt er aufs Kreuz im Todestrakt des Gefängnisses geschnallt, wo er eine letale Injektion erhalten soll, endlich, dass der Schritt vom Opfer zum Täter die einzige Überlebenschance in einer durch und durch verkommenen Welt darstellt. Nur indem er sich zum Verbrechen bekennt, darf er dank einer als TV-Container-Show konzipierten Hinrichtungsshow aus einem vom Bundesstaat Texas privatisiertem Gefängnis auf die Milde der Zuschauer hoffen, die den Freak per Abstimmung überleben lassen. Die Quote spricht Recht. Die Quote hat immer Recht.

DBC Pierre, das Pseudonym Finlays, das für seine persönliche Läuterung und "Dirty but clean Peter" steht, wurde Ende 2003 mit dem renommierten britischen Booker Prize bedacht. Und der Roman, der nicht nur beißende Medien- und Gesellschaftssatire beinhaltet, sondern sich auch in irrwitzigen Pirouetten um das zentrale Thema dreht, dass hier ein ehemaliger Betrüger vom Betrug als wesentlichem Bestandteil des inneren Zusammenhangs der Gesellschaft spricht, erregte deshalb auch Aufsehen wegen der blöden Frage, ob ein ehemaliger Krimineller Literaturpreise erhalten darf, mit denen er seine erschlichenen finanziellen Erblasten abtragen will. Sogar die ansonsten liberalen New York Times warfen dem Roman in einer Besprechung vor, wegen seiner "unpatriotischen Inhalte" bezüglich der Schilderung amerikanischer Provinzverhältnisse und der Ausbeutung sämtlicher negativer USA-Klischees ein einziges Ärgernis zu sein.

Dabei leistet DBC Pierre hier mit seinem Debüt viel mehr. Er beschreibt mit derber Umgangssprache, die in der deutschen Übersetzung leider wieder einmal etwas schnoddrig ins Fach Bud Spencer und Terence Hill lappt, abseits der eigentlichen Handlung im Stile des US-Rappers Eminem im härtesten Gang einen verzweifelten, emotional wie inhaltlich leeren Alltag. Der kann nur bewältigt werden, wenn man ihn als Verlängerung der bunten Fernsehwelt und vor allem der Werbung erlebt. Musik aus dem Autoradio klingt hier "sanft wie Blütenblätter auf Frotteehandtüchern", die Stimme von Vernons angeschwärmter heimlicher High School-Liebe wie "Flüssigpo, eingefasst in Gummibündchen." Nicht nur sprachlich bleibt hier einiges bewusst unverdaut. Diese schwarze Komödie drückt dem Leser auch so länger im Magen. Provinz und Fernsehen finden schließlich nicht nur in Texas statt. Buch des Jahres. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 29./30./31.5.2004)