Foto: Cover/"In einer Wehmachtsausstellung" - Verlag: Turia + Kant
Wien - Wie lassen sich die NS-Verbrechen heute, knapp sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, Jugendlichen vermitteln? Was sind sinnvolle Formen der Auseinandersetzung mit dem Holocaust? Wo liegen die Möglichkeiten und Grenzen der Vermittlung in bezug auf die NS-Zeit? Ist es möglich, aus Geschichte zu lernen? Es sind spannende Fragen, mit denen sich die neun AutorInnen des Sammelbandes auseinandersetzen. Die immer größer werdende zeitliche Distanz zum Holocaust und die schwindende Zahl von ZeitzeugInnen schaffen neue Bedingungen, denen man sich im Umgang mit der NS-Zeit stellen muss. Daher beinhaltet der Band auch eine empirische Studie, die sich der Frage widmet, welche Bezüge Jugendliche heute, Anfang des 21. Jahrhunderts, zur NS-Vergangenheit haben.

Vom Sprechen über die NS-Zeit

Der erste Teil des Bandes beschäftigt sich mit drei miteinander verbundenen Themenbereichen: Eingangs werden die Grundlagen von Vermittlungsarbeit in zeithistorischen Ausstellungen erläutert sowie deren Möglichkeiten und Gefahren bezugnehmend auf Themen rund um die NS-Vergangenheit diskutiert. Anschließend werfen die AutorInnen Fragen hinsichtlich des Sprechens über den Nationalsozialismus und der Wirkungsweise unterschiedlicher Erinnerungsformen auf – und greifen dabei sowohl auf theoretische Überlegungen als auch auf ihre Erfahrungen in der zweiten Wehrmachtsausstellung zurück. Abgerundet wird dieser erste Teil des Bandes mit zwei Beiträgen, die sich anhand der Themen Antisemitismus und Revisionismus mit Abwehrhaltungen in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus beschäftigen.

Eine Studie über die Bezüge Jugendlicher zum Holocaust

Im zweiten Teil des Buches wird die von den Sozialwissenschaftlerinnen Ines Garnitschnig und Stephanie Kiessling durchgeführte Studie zu den Bezügen von Jugendlichen zum Thema Nationalsozialismus präsentiert. In der Erhebung wurden die Angaben von 924 SchülerInnen, die mit ihren Schulklassen die zweite Wehrmachtsausstellung besucht hatten, mittels eines Fragebogens zum Themenkreis Wehrmacht und Nationalsozialismus erfasst. Darüber hinaus nahmen SchülerInnen aus vier Schulklassen an Gruppendiskussionen teil, in denen die persönlichen Anknüpfungspunkte an das Thema Nationalsozialismus im Zentrum standen. Einen weiteren Schwerpunkt der Studie bildet das Sprechen über den Nationalsozialismus in der Familie.

"Meine Großeltern erzählten einmal, dass sie keine andere Wahl hatten, als Hitler zu verehren"

Die Studienautorinnen kommen zum Ergebnis, dass sich viele Aussagen der SchülerInnen durch Widersprüchlichkeiten auszeichnen, die meist daraus resultieren, dass die Ablehnung des Nationalsozialismus zugleich mit der Verteidigung von Personen aus dem persönlichen Umfeld verbunden wird, die das nationalsozialistische Regime befürworteten oder sich diesem anpassten. Die Jugendlichen positionieren sich entsprechend gegen den Nationalsozialismus und argumentieren aber gleichzeitig mit der Gegenüberstellung von Wahl und Zwang, dem psychischen Druck, der Betonung der Kriegshandlungen der Alliierten, der Gleichsetzung des Zweiten Weltkriegs mit anderen Kriegen, den schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen oder der Naivität der Menschen. Als Motivation für viele dieser Äußerungen erscheint das Bemühen, verstehen zu können, was teilweise dazu führt, positive, entlastende Aspekte am Nationalsozialismus zu suchen und den Juden Mitschuld am Holocaust zuzuschreiben.

Auffällig ist darüber hinaus die beinahe völlige Absenz der Herstellung einer Verbindung zwischen den NS-Verbrechen und der eigenen Familiengeschichte. Die Mehrheit der Jugendlichen gibt an, sich an keine Gespräche zum Thema "Nationalsozialismus" erinnern zu können und auch keine diesbezüglichen Fragen an Familienangehörige zu haben. Daraus lassen sich zwei gegensätzliche Schlüsse ziehen: Einerseits könnte dies bedeuten, dass der Nationalsozialismus für viele Jugendliche kein aktuelles, bedeutungsvolles Thema (mehr) ist. Andererseits könnte dahinter aber auch das Bemühen stecken, einer Auseinandersetzung auszuweichen, was eher bedeuten würde, dass die Jugendlichen den Nationalsozialismus als sehr lebendige Geschichte wahrnehmen, mit der sie lieber nicht konfrontiert werden wollen. (miS)