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"Bei uns kommt keiner zufällig auf der Durchreise vorbei. Wir sind der Endpunkt", bemerkt Brian Tobin, Premierminister der kanadischen Provinz Neufundland und Labrador.

Neufundland, dieser 100.000km² große Felsbrocken mit seinen kommerziell-genutzten Nadelwäldern, die sich wie Designer-Stoppeln ausbreiten, lag nicht immer abseits, im Gegenteil. Leif Erikson, der Wikinger, baute oben an der Nordspitze Neufundlands, gleich gegenüber von Labrador, seine Behausung, deren Spuren noch immer zu sehen sind. Isländer fischten auf den sogenannten Neufundlandbänken, jenem ausladenden Festlandsockel, der weit in den Atlantik ragt, schon im Spätmittelalter nach Kabeljau, während die Basken gleichzeitig im Golf von St. Lorenz Wale jagten. Und der Genueser Giovanni Cabotto, ein Zeitgenosse und von Kolumbus – entdeckte hier 1497 den amerikanischen Kontinent, weil er der erste war, der sich für Land interessierte und nicht bloß für Fisch.

Aber Cabots Reise, gesponsert von Fischkaufleuten im englischen Bristol, wirkte wie ein Signal: „Binnen weniger als zwanzig Jahren,“ erklärt der irische Geograph John Mannion, der an der Uni von St. John’s lehrt, „strömten die Fischer vom europäischen Atlantikrand in die fischreichen Gewässer.“

Der Fisch

Portugiesen, Spanier, Normannen, Bretonen, Basken, Engländer jagten King Cod – König Kabeljau. Russen, Deutsche, Bulgaren, Koreaner und viele andere mehr machten dieser wichtigen Proteinquelle der Menschheit in den siebziger und achtziger Jahren dann mutwillig den Garaus. Sie pflügten den Meeresboden mit ihren Hecktrawlern – und töteten damit den Nachwuchs des Kabeljaus. Alle anderen Fischsorten wurden über Bord geworfen, der Fischlaich von Deck geschaufelt. 1992 sperrte die kanadische Regierung die Fischerei. Premier Tobin vergleicht die Folgen dieses drastischen Schrittes mit der Schließung der amerikanischen Automobilindustrie. „Über Nacht“ fügt er dramatisch hinzu.

In der Tat hat Neufundland heute die höchste Arbeitslosenquote Kanadas, die Bevölkerung schrumpft als Folge der Auswanderung. Nur eine halbe Million Menschen lebt noch hier, im dreimal größeren Labrador, das formell von St.John’s aus verwaltet wird, bloß 50.000. Die Neufundländer – von den schwarzen Riesenhunden, die diesen Namen ebenfalls tragen, gibt es in ihrer Heimat übrigens höchstens noch etwa 100Vertreter– denken viel über sich selbst nach: eine ideale Voraussetzung für eine eigene Kultur und Literatur. Diese Keime wurden enorm gefördert durch den Welterfolg von E. Annie Proulx’ Roman „Schiffsnachrichten“, der bekanntlich in Neufundland spielt.

Das Buch

Die Einheimischen selber sind allerdings nur selten begeistert über das berühmte Buch. Sie sehen sich häufig als die Ostfriesen Kanadas, als Zielscheibe für Spott und Verachtung, sie hadern mit ihrer gespaltenen Identität. Denn bis 1931 war Neufundland britische Kolonie, im Ersten Weltkrieg stellte die Insel gar ein eigenes Regiment für die fernen Schützengräben. Da verbluteten dann die jungen Neufundländer fern von der Heimat. In ihrem Gedenken werden die Fahnen einmal jährlich auf Halbmast gesetzt – zufälligerweise am kanadischen Nationalfeiertag.

Aber die Neufundländer dachten nicht daran, dieses Datum zu ändern, als sie 1948/49 nach zwei Volksabstimmungen knapp und widerwillig eine Konföderation mit Kanada eingingen. Der Ausdruck allein spricht Bände: Die Neufundländer verstehen diesen Schritt als Zusammenschluß zweier gleichgestellter Partner. Denn zwischen 1931 und 1933 war Neufundland gleichermaßen souverän, bis der eigene Bankrott, beschleunigt durch die Käuflichkeit der eigenen Politiker, die Insel noch einmal kurzfristig unter britische Fittiche trieb.

Es gibt keine nennenswerte frankophone Minderheit in Neufundland – im Gegensatz zu den anderen atlantischen Provinzen Kanadas.Trotzdem hat man aber viel Verständnis für Quebec, denn die Neufundländer sehen sich selbst als angelsächsisches Spiegelbild der widerborstigen Quebecer. Sie haben ihre eigene Kultur, die auf südost_irische und südwestenglische Wurzeln zurückgeht, intakt und lebendig erhalten und dem amerikanischen Einheitsbrei bisher getrotzt. Dieses Gefühl der bedrohten Eigenständigkeit schafft unwahrscheinliche Bundesgenossen.

Acht Stunden dauert die Autofahrt von Ost nach West. Der „Trans Canada Highway“ erschloß erst Mitte der sechziger Jahre eine Landverbindung zwischen der dichtbesiedelten Avalon-Halbinsel im Osten mit der Hauptstadt St. John’s und den industriellen Zentren im Westen wie Grand Falls und Corner Brook. Als der Flughafen Gander 1938 als Militärstützpunkt gebaut wurde, lösten die Bauarbeiter eine Eisenbahnfahrkarte zum Meilenstein 1-2-4, denn es gab weder eine Straße noch eine Ortschaft. Heute gibt’s dafür die Eisenbahn nicht mehr. Gander ist dann – zusammen mit dem irischen Shannon – zum transatlantischen Brückenkopf geworden, aber die größere Reichweite der Flugzeuge setzte dieser Blütezeit ein Ende, und heute wirkt Gander reichlich ausgestorben.

Zurück zum Automobil: amerikanisches Fahrgefühl, 100km pro Stunde abspulen, keine aggressiven Raser trüben die Muße. Die Landschaft ist wenig aufregend, mittelgroße Bäumchen warten in erstaunlicher Dichte auf die Kettensäge, kleine braune Häufchen Sägemehl am Straßenrand zeugen vom Do-it-yourself-Drang der neufundländischen Männer, denn unweit der Häufchen steht unweigerlich eine Gruppe Pick-up-Lieferwagen, tiefer im Wald kann man die Motoren heulen hören: Selbstversorgung für den nächsten kalten Winter.

Die Försterei liegt den Leuten hier im Blut, denn Neufundland produziert seit Beginn dieses Jahrhunderts Zeitungspapier im großen Stil. Lord Northcliff, der englische Pressebaron, sah den Ersten Weltkrieg kommen und wollte sich seine Versorgung sichern. An den Schnellen (Grand Falls ) des Abenteuer-Flusses (Exploits River) stellte er eine riesige Fabrik hin, deren eisengegürtete Schornsteine noch heute Ruß in den Nordhimmel pusten.

Das Leben

Es ist ein hartes Leben hier, denn obwohl Neufundland südlicher liegt als Irland auf der andern Seite des Teiches, sorgt der eiskalte Labradorstrom, auf dessen Rücken die Eisberge herunterschaukeln, für lange, kalte, stürmische Winter. Fischer, Holzfäller, Bergarbeiter, Lastwagenfah- rer – eine männliche, rauhe Gesellschaft, die ihre Existenz einer unbarmherzigen Natur abringt. „Wenn es sich bewegt, erschieß es, bring’s um, füll’s in Flaschen ab,“ formuliert der Jungschriftsteller Ed Riche farbig. „Wir mußten immer Opportunisten sein.“

Das mit den Flaschen ist im übrigen nicht bloß eine Redensart. Einheimische Hausfrauen bereiten ein leckeres Elchragout aus Fleischstücken, die monatelang in Glasflaschen lagerten.

Aber die Mentalität des Ausbeuters ist erst allmählich am Schwinden, das Schicksal des Kabeljaus bezeugt die Zähigkeit dieser Gesinnung. Noch heute werden Zwergdorsche (capelin) allein für den weiblichen Rogen gefischt, der Rest des winzigen Fischleins – und sämtliche Männchen – bestenfalls zu Fischmehl verarbeitet, obwohl jedes Fischerkind weiß, daß der Kabeljau sich mit Vorliebe von Zwergdorsch ernährt.

Auch die Zukunftshoffnungen bewegen sich zum Teil in diesen vertrauten Bahnen, denn der künftige Wohlstand soll erneut direkt von der Natur kommen: Ende 1997 floß das erste Öl aus den Neufundlandbänken, die schon einmal – in der Form von Walöl – die Wohnzimmer Europas erleuchtet hatten. Und oben in Labrador wird die größte Nickelmine der Welt betriebsbereit gemacht. Man hat sie mit bloßem Auge aus einem Helikopter entdeckt, eine recht bittere Pille für hochspezialisierte Geologen.

Die Menschen Neufundländer sind gesellig und gesprächig und darin ihren Vorfahren von der anderen Atlantikseite nicht unähnlich. Doch der Alltag, die Schnellimbisse, die Kleidung und die Unterkünfte sind stark amerikanisch geprägt. Neufundland ist buchstäblich der Punkt, wo Amerika und Europa sich berühren: Im atemberaubenden Naturpark Gros Morne im Nordwesten der Insel läßt sich das sogar sehen, und hier finden auch geologische Banausen Gelegenheit zur Demut vor längeren Zeiträumen. Fels, der von tief unter dem Meeresboden herausquoll und bis heute steril ist, und tief eingeschnittene Schluchten erzählen Geschichten von einer Urzeit, als Neufundland das Herz des einzigen Kontinents bildete. (Der Standard, Printausgabe)