Bei Nationalratswahlen galt in der Nachkriegszeit nur die Parteidisziplin. Doch die Ergebnisse der Präsidentenwahlen zeigen, dass hier offenbar das Anti-Nazi-Potenzial entscheidend in die Waagschale fiel: Theodor Körner gewann 1951 gegen den offen um‑ die "Ehemaligen" buhlenden ÖVP-Landeshauptmann Heinrich Gleißner mit 52,1 Prozent, Adolf Schärf gegen den gemeinsamen ÖVP-FPÖ-Kandidaten Wolfgang Denk 1957 mit 51,1 Prozent, Franz Jonas 1965 gegen den Fürsprecher der Nazis in der ÖVP, Alfons Gorbach, mit 50,7 Prozent. Und nun erzielte Heinz Fischer mit 52,4 Prozent gegen Benita Ferrero-Waldner überhaupt das beste Ergebnis sämtlicher von der SPÖ zum ersten Mal nominierten Präsidentschaftskandidaten. Er übertraf auch die 51,7 Prozent, mit denen der von der SPÖ nominierte Parteilose Rudolf Kirchschläger die Wahl für seine erste Amtsperiode gewann. (Wiederwahlen blieben wegen des Bonus der Amtsinhaber unberücksichtigt.) Thomas Klestil ließ 1986 sein Verhältnis zu den Freiheitlichen auf geschickte Weise offen, eine Interpretation der Waldheim- Wahl will ich mir verkneifen. <>
Die Nazigegner waren 1957 schon sehr bescheiden geworden. Es sind Menschen aller politischen Schattierungen, die ihre Wahlentscheidungen aus den verschiedensten Motiven treffen. Weshalb die Rolle, die dabei ihre Abneigung gegen Braun spielt, schwer zu fassen ist. An der Tatsache aber, dass sie bei Präsidentschaftswahlen wahlentscheidend wird, hat sich offensichtlich seit über fünfzig Jahren wenig geändert.
Wieso wird ein solches Potenzial so selten erwähnt? Die Gründe reichen in die frühe Nachkriegszeit zurück. Als über 400.000 ehemalige NSDAP-Mitglieder 1949 wieder wählten, war beiden Großparteien klar, dass gegen sie keine Mehrheit mehr zu erringen war. Also trachteten beide, das Buhlen des anderen durch eigenes Liebeswerben zu paralysieren. Die "Ehemaligen" wurden zur primären Zielgruppe der Wahlkämpfe. Seiner Stammwähler war man sich sowieso sicher.
Wie schnell das ging, illustriert das Gesetz über die Vermögenszuwachsabgabe, mit dem ein Teil der Kriegs- und "politischen Gewinne" abschöpft werden sollte. Das Gesetz war ein Witz. Mit dem 1. Jänner 1940 wurde ein Stichtag gewählt, an dem die Ariseure ihre Schäfchen längst im Trockenen hatten. Bereits 1947, als über die Abgabe beraten wurde, konnten also die Nutznießer der NS-Herrschaft nicht nur die Rückstellung zahlloser geraubter Werte blockieren, sondern den Gesetzgeber auch zu einem gigantischen Steuergeschenk veranlassen.
So mancher Politiker, der dabei mitspielte, hatte KZ, Gestapohaft und Folter hinter sich. Aber der Wille zur Macht hilft eben den Pakt mit jedem Teufel ertragen, selbst jenem, durch dessen Hölle man selbst gegangen ist. Wer nicht mitspielen wollte, konnte bald nur noch ohnmächtig zuschauen. Möglicherweise waren die gegen Braun Allergischen sogar in der Mehrheit. Doch ihre Meinung wurde in einer parteipolitisch durchstrukturierten Zeitungslandschaft systematisch abgewürgt. Viele resignierten. Der Rest wich in jene Verweigerungshaltung aus, die zeitweise einer inneren Emigration glich und bis heute das Selbstverständnis des besten Teiles der österreichischen Künstler und Intellektuellen prägt.