Was Beobachter schon lange vermuteten, wurde jetzt von US-Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz bestätigt: Die Souveränität, die die Iraker am 1. Juli erhalten sollen, ist ein Papiertiger. Die USA und Großbritannien denken daran, ihre Truppen aufzustocken.

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Washington/Bagdad - Die USA wollen den für den 30. Juni angekündigten Machttransfer an eine irakische Übergangsregierung eng begrenzen. Diese Regierung wird nach Angaben von Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz auch über die eigenen Sicherheitskräfte nicht die vollständige Befehlsgewalt besitzen.

Die US-Besatzungstruppen und ihre Verbündeten würden weiter in eigener Verantwortung für die Sicherheit des Landes zuständig sein, erklärte Wolfowitz bei einer Anhörung vor einem Senatsausschuss in Washington. Nach Informationen der "New York Times" wird die "vorläufige Regierung" nach Angaben von US-Regierungsbeamten über eine "stark eingeschränkte Souveränität" verfügen. Die US-Botschaft in Bagdad, die personell umfangreichste auf der Welt, solle ihren Einfluss bei Entscheidungen geltend machen. Die Erlässe des US-Zivilverwalters Paul Bremer können demnach nicht aufgehoben werden.

Senatoren "frustriert"

Zudem ist sich die US-Regierung noch nicht einig, an wen die Macht am 30. Juni übergeben werden soll. Einige Senatoren seien bei den Anhörungen "frustriert" gewesen, weil wenige Wochen vor Übergabe der Souveränität so wenige Details bekannt seien, so die "New York Times".

Die Übergangsregierung, bei deren Bildung der UNO-Beauftragte Lakhdar Brahimi Regie führen soll, werde Wahlen vorbereiten, die frühestens Anfang 2006 stattfinden könnten. Aus ihnen soll ein Parlament hervorgehen, das eine neue Regierung auswählen und eine Verfassung ausarbeiten soll.

Sicherheitslage

Angesichts der außer Kontrolle geratenen Sicherheitslage hat US-Generalstabschef Richard Myers eine Aufstockung der US-Truppen in Aussicht gestellt. Derzeit überprüfe der Oberkommandierende im Irak, General John Abizaid, ob zusätzliche Soldaten benötigt würden, sagte Myers in Washington. Wenn Abizaid eine Aufstockung der derzeit 135.000 Soldaten zählenden Truppe fordere, müssten einige Einheiten früher als geplant aus dem Heimaturlaub zurückkehren, sagte Myers.

Londons Notfallpläne

Großbritannien ist nach einem Bericht der Tageszeitung "The Independent" bereit, bei einer fortgesetzten Gewalteskalation bis zu 1700 zusätzliche Soldaten in den Irak zu entsenden. Das Militär arbeite an entsprechenden Notfallplänen, berichtete die Zeitung. Premierminister Tony Blair hatte noch am Vortag eine Erhöhung des gegenwärtigen Truppenkontingents von 8700 Mann ausgeschlossen.

Laut "Independent" sollten zusätzliche britische Truppen in der Umgebung der südirakischen Hafenstadt Basra stationiert werden. In Basra und dem Vorort Zubair waren am Mittwoch bei Autobombenanschlägen 68 Menschen, darunter 20 Kinder, ums Leben gekommen. Der Zeitung zufolge sind die Verhandlungen mit den USA über eine mögliche Truppenverstärkung "weit fortgeschritten."

An der Schwelle zum Volksaufstand

Der Sicherheitsberater des früheren US-Präsidenten Bill Clinton, Samuel Berger, hat unterdessen vor einer weiteren Verschlechterung der Lage im Irak gewarnt. Der Irak stehe an der Schwelle zum Volksaufstand, sagte Berger am Donnerstag in einem CNN-Interview. (AP, AFP, Reuters, dpa, DER STANDARD, Printausgabe 24./25.4.2004)