Das Maiasmokk in Tallin

www.maiasmokk.ee
Für einen, der nicht fliegt, öffnen sich drei spektakuläre Eingänge in das Baltikum: per Schiff von Stockholm nach Riga, per Bahn von Warschau nach Vilnius, per Auto von Petersburg nach Tallin. Mit dem Schiff nach Riga ist die erhebendste Art anzukommen. Über Nacht womöglich, denn da dockt man im Morgengrauen an die Skyline der lettischen Hauptstadt an. Ein wenig New-York-Feeling stellt sich ein, Kirchtürme statt Skyscraper.

Rigas Stadtzentrum ist hergerichtet, als wäre das Land schon lange eine blühende skandinavische Metropole. Die verarmte russische Minderheit drängt der Lette an den Stadtrand, mit deren Küche will sich die Rigaer Gastronomie erst gar nicht beschäftigen. Man merkt: Die besten lettischen Köche (und deren gibt es nicht wenige) haben in Schweden gelernt.

Szenerestaurants dominieren die Spitzengastronomie, Weine aus der Neuen Welt die Weinkarten, der Thunfisch an Wasabipüree die Menübücher. Man kennt das zur Genüge. Der Koch des Hotelrestaurants Raibais Balodis aber besteht auf seine lettisch-skandinavischen Wurzeln und brüht eine Gerstensuppe auf Hühnerfondbasis mit Mangold und Wachtelei, eine Art Kiev-Huhn unter milder Currypaste mit karamellisierten Karotten und ein Waldmeister-Parfait auf wilden Erdbeeren. Alles hervorragend, im halb leeren Restaurant um etwa zwanzig Euro genossen. Doch die Mieten sind hoch, ist derartig Perfektes ökonomisch lange durchzuhalten?

Mit dem Auto von Petersburg nach Talinn, das beinhaltet russische Straßensperren zuzüglich der Erfindung diverser Verkehrsdelikte. Also genügend Bargeld mitnehmen. Die Durchquerung Estlands weckt die Neugier, wo denn die Einwohner dieses fast menschenleeren Landes verblieben sind. Klarer Fall: Sie leben in der Hauptstadt und gerieren sich jeden Samstagabend, als sei gerade ein neuer Kontinent entdeckt. Dementsprechend voll sind die Kneipen und Restaurants. Die Estländer singen gerne und pflegen ihren fürchterlichen Musikgeschmack.

Wer sein Essen ohne Belästigung einnehmen will, reserviert einen Tisch im Gloria, dem teuersten Restaurant des Baltikum. Fest in russischer Hand wird hier exzellente französische Küche gekocht. Der Jamie Oliver des Baltikums heißt Michael Bhoola und kocht im alten Sowjetschuppen Pegasus, was die Kochbücher des berühmten Kollegen vorschreiben. Das Maiasmokk ist das einzige Wirtshaus in Talinn, wo die regionale Küche ohne Fritteuse und Mikrowelle auskommt. Eine Stiege höher hört man auch die Sänger nicht mehr.

Im Nachtzug von Warschau nach Vilnius kann man sich das Schlafen abschminken. Andauernd wird kontrolliert. Die alte Sowjet-Außengrenze steht unverändert an Ort und Stelle: Wachturm und Stacheldraht. Neuerdings unbemannt.

Litauen isst nicht gerne gut, keine Ahnung warum. In Vilnius trifft man auf einfallslose Szenelokale, die viel Geld für wenig Kreatives verlangen. Gerne wird Schockgefrorenes aufgetaut. Am Stadtrand strebt der Koch des Vandens Malunas in einer alten Mühle nach Höherem. In seine Küche hackt er manchmal auch Elche und Biber zu Steakgröße. Die Beilagen bleiben unzerkocht. So etwas erscheint einem schnell als Wunder, man kehrt gerne wieder. Wenn es das Lokal dann überhaupt noch gibt, denn Beständigkeit ist keine Pflicht rasant wachsender Ökonomien. (Manfred Klimek/Der Standard/rondo/23/04/2004)