Wien - Einem ziemlich weit verbreiteten Aberglauben zufolge gelten neun vollendete Symphonien seit Ludwig van Beethovens Zeiten für einen Komponisten als das ihm zugemessene Pensum an Lebenszeit. Obwohl Tschaikowsky es nur auf sechs brachte und Johannes Brahms schon nach seiner Vierten das Zeitliche segnete, hielt auch Gustav Mahler diversen Äußerungen und Spielanweisungen zufolge die Neunte für seine biografische Stopptafel.

So liegt es nahe, dass die Exegeten dieses umfänglichen Werkes, unter ihnen sogar Theodor W. Adorno, in der eifrigen Suche und vor allem im triumphierenden Auffinden von etwaigen tönenden Abschiedssymptomen einander zu übertreffen trachten.

Offenbar konzentriert sich dieser philologische Eifer eher auf die Leseform dieser Symphonie. Denn schon während der ersten Takte, in denen sich fragmentarische Klangpartikel in disparatesten Klangfarben nach und nach zur emotionalen und thematischen Grundsubstanz konfigurieren, wird klar, dass dieses Werk weniger einen Abschied als eine - bald distanzierte, bald grimmige und sehr oft emotional hoch aufgeladene - Erinnerung darstellt.

In keinem anderen Werk findet sich Mahlers Klangfarben- und Thementopologie so schwerelos und oft genug auch ganz überraschend zu einer so verwirrenden Fülle sich stets unruhig verändernder Muster verwoben. Bernhard Haitink versuchte die arabeskenhafte Endlosigkeit mancher Teile, wie zum Beispiel im zweiten Satz, zu portionieren und löste vor allem im etwas äußerlich geratenen dritten Satz alle Schleusen der Dynamik.

Das eigentliche Handikap dieser Wiedergabe liegt eigentlich in der unnachahmlich blühenden Tongebung vor allem der philharmonischen Streicher. Mit etwas weniger Vibrato und und etwas mehr Zurückhaltung beim Zelebrieren mancher Soli wäre die Stimmung aufsteigender und im vierten Satz verebbender vager Erinnerung sicher stimmiger zu realisieren. (DER STANDARD, Printausgabe, 23.4.2004)