Der Soziologe Norbert Elias hat sich unter anderem mit dem Problem beschäftigt, dass gesellschaftliche Prozesse in der Regel das Ungeplante hervorbringen. Ein anschauliches Beispiel für solch ungeplanten und ungewollten Prozess ist zum Beispiel die Besorgnis erregende Dynamik der Vorbereitungen und der Folgen der kommenden EU-Verfassung.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam für viele Beobachter die Entscheidung des britischen Regierungschefs, eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung durchführen zu lassen. Eine riskante Wende in der Europa-Politik Tony Blairs, der sich am Anfang seiner Amtszeit vorgenommen hat, Großbritannien nach Europa zu führen. Sosehr ihm dieser Schritt auch de facto von der Opposition und der zügellos populistischen Massenpresse, aber auch von der starken euroskeptischen Gruppe in seiner eigenen Partei aufgezwungen wurde, ändert dies nichts an der Bedeutung dieser folgenschweren Zerreißprobe.

Es geht dabei nämlich nicht nur um das persönliche Schicksal Tony Blairs, sondern auch um die Zukunft der EU. Gerade am Vorabend der Erweiterung der Union breitet sich Verunsicherung aus, scheinbare Gewissheiten werden infrage gestellt. Der Sieg der Sozialisten in Spanien zeigt widersprüchliche Folgen. Einerseits wird die von der polnisch-spanischen Achse heraufbeschworene Krise um die Abstimmungsmodalitäten in der EU-Verfassung entschärft, und die isolierten Polen neigen auch zum Nachgeben.

Andererseits verschärft der Entschluss des neuen Regierungschefs Rodríguez Zapatero, die spanischen Truppen vorzeitig aus dem Irak abzuziehen, den Konflikt mit den Amerikanern und erweckt für viele doch den Eindruck, dass Spanien dem islamistischen Terror nachgibt.

Die antiamerikanische Stimmung trägt zum beschleunigten Zerfall der Allianz der Willigen“ im Irak bei. In einer kritischen Situation müssten demokratisch gewählte Regierungen besonders darauf achten, dass der Wille der Mehrheit ihrer Bürger doch nicht von den Feinden der Demokratie als Schwäche verstanden wird. Die sich abzeichnende Vertrauensund Kompetenzkrise der Europäischen Union hängt freilich auch mit der Schwäche und der Kurzatmigkeit der politischen Führungen zusammen.

Weder in Deutschland, noch in Frankreich, geschweige denn in Großbritannien sieht man das, was die Amerikaner „Leadership“ nennen, also die Fähigkeit, in einer kritischen Situation sozusagen aus dem Stand heraus mutige, aber notwendige Entscheidungen zu treffen und die skeptischen Bürger mitzureißen. Die fluchtartigen Bewegungen in und aus der EU-Kommission (Romano Prodi möchte „von Zapatero das Siegen lernen“) spiegeln den verblassenden Glanz des europäischen Gedankens wider.

Der Sturz der siegessicheren Aznar-Regierung in Madrid, der überraschende Erfolg eines farblosen exkommunistischen Nationalisten in Bratislava, das erstaunliche Überleben des reichsten und der Korruption verdächtigten Politikers an der Spitze der italienischen Regierung und vor allem die ausweglose Verstrickung der einzigen Weltmacht im Irak unterstreichen die zeitlose Relevanz der Worte des großen russischen Denkers Alexander Herzen: „Es gibt kein Libretto. Wenn die Geschichte einem bestimmten Libretto folgen würde, dann verlöre sie alles Interesse, wäre überflüssig, langweilig und lächerlich . . . Geschichte ist ganz Improvisation, ganz Wille und geschieht aus dem Stegreif, es gibt in ihr keine Grenzen und keine Marschwege.“ (DER STANDARD, Printausgabe, 22. 4. 2004)