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Agata Wrobel

Foto: REUTERS/Lyle Stafford
Warschau - Die stärkste Frau Europas hatte in den vergangenen Monaten Wichtigeres im Kopf als sportliche Wettkämpfe. Agata Wrobel lernte für die Matura. Vor zwei Jahren bei der EM im türkischen Antalya hatte sie in der Gewichtsklasse über 75 Kilo noch die Goldmedaille geholt, letztes Jahr im griechischen Loutraki Silber. Bei der WM in Vancouver Ende 2003 landete sie nur auf dem siebten Platz. Dafür bestand die 23-Jährige ihre Prüfungen und hat nun die Hochschulreife in der Tasche.

Aus ärmlichen Verhältnissen

Eigentlich wollte Agata Wrobel Köchin werden. Doch in der Nähe ihres Heimatortes in Südpolen gab es nur eine Schneiderschule. „Auch gut“, dachte Agata damals, „dann werde ich eben Schneiderin.“Doch die Mutter machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Am ersten Schultag sagte sie: „Weißt du, Agata, aus dir wird doch nichts Gescheites. Bleib besser zu Hause und kümmere dich um deine Schwester.“ Alles Bitten, Schreien und Toben half nichts. Der Vater, seit Jahren arbeitslos, schnappte sich eine Flasche Wodka und verkroch sich in eine Ecke.

Agata war damals 16 Jahre alt, wog 100 Kilo und hatte keine einzige Freundin. Das Verbot der Mutter traf sie ins Mark: Als Kindermädchen würde sie nie aus ihrem Berg dorf herauskommen. Vier Jahre später, im September 2000, stand Agata Wrobel auf einem Podest in Sydney. Sie hatte die olympische Silbermedaille im Gewichtheben gewonnen. Auf dem Stockerl gaben ihre Nerven nach. Sie weinte. Ausnahmsweise vor Freude.

"Sie ist hartnäckig und mutig"

Heute trainiert Agata Wrobel in Polens Gewichtheber-Nationalmannschaft in Siedlce. Die Stadt liegt an der Grenze zu Weißrussland. In der Halle ist es stickig und schwül. Mehr als zwanzig junge Frauen schwitzen hier, reiben sich die Hände mit weißem Magnesiumpulver ein, stemmen schwere Scheiben hanteln in die Höhe. „Agata hat so viel Ehrgeiz wie Kraft“, sagt ihr Trainer Ryszard Socka. „Sie ist hartnäckig und mutig.“ Mit rot angelaufenem Kopf und zusammengebissenen Zähnen wuchtet die 23-Jährige mehr als 140 Kilo in die Höhe. „Das Leben hat sie nicht gerade mit Samthand schuhen angefasst.“

Mit einer Plastikmedaille bei einer Jugendmeisterschaft fing alles an. Ihr Onkel hatte gesehen, wie sie vom Ufer der Sopotnianka aus im Kopfsprung in den Fluss sprang und mit enormer Kraft strom aufwärts schwamm. Der Sportlehrer fragte die verhinderte Schneiderin, ob sie nicht vielleicht Lust hätte, Hammerwurf und Steinstoßen zu trainieren. Wenige Monate später wurde sie von Nationaltrainer Ryszard Socka überredet, nach Siedlce zu kommen. In der ostpolnischen Stadt wartete auch eine Schule auf sie und - zum ersten Mal in ihrem Leben - ein eigenes Bett. Seit dem brach sie dreizehn Weltrekorde (Bestmarke im Reißen: 132,5kg; im Stoßen: 162,5) und sammelte Medaillen.

Nach der WM in Vancouver hätte sie ihre sportliche Karriere fast aufgegeben. Doch sie will es noch einmal wissen. In Athen will Agata Wrobel Olympiasiegerin werden. (DER STANDARD, Printausgabe, Donnerstag, 22. 4. 2004, Gabriele Lesser)