Wir trafen uns in einem etwas verwahrlosten Einfamilienhaus am Stadtrand von Prag unter Einhaltung von rudimentären Vorsichtsmaßnahmen gegen die Geheimpolizei. Am Küchentisch saßen Václav Havel, Jan Carnogursky, Berufsbezeichnung "Dissidenten", und der Priester Václav Maly. Dabei war noch Karl Schwarzenberg, damals für die Menschenrechts-NGO Helsinki-Föderation tätig, inoffiziell diskreter Unterstützer der tschechoslowakischen Dissidenten. Havel und Carnogursky waren bis vor kurzem im Gefängnis gewesen und würden zwei Jahre später wieder (kurzfristig) inhaftiert werden. Es war Frühsommer 1987, in Moskau gab schon längst Gorbatschow "Glasnost"-Parolen aus, in der CSSR herrschten noch die harten Stalinisten.

Auch Havel analysierte scheinbar pessimistisch: "Die Repression ist die schlimmste in einem osteuropäischen Land mit Ausnahme von Rumänien." Aber: "Wir brauchen keine von außen gewährte Freiheit, sondern es hängt mehr denn je davon ab, was sich die Gesellschaft erobert." Ich ging skeptisch von dem Gespräch weg. Großartige Menschen, dachte ich, die mit ungeheurem moralischem Mut einem solchen Regime widerstehen, aber chancenlos. Die meisten Politiker, viele von uns Journalisten dachten damals in zu bescheidenen Kategorien: Lockerungen des Regimes, ja, die konnte es wohl geben, aber einen totalen Umsturz? Nein.

Ein Erlebnis im Hotel konnte man wohl als schwejksche Anekdote abtun - der alte Portier fragte: "Sind Sie in Reisegesellschaft von ihre firschtliche Gnaden (Anm.: Schwarzenberg)?" Aber zweieinhalb Jahre später eroberte sich "die Gesellschaft" in gewaltigen Massendemonstrationen der "samtenen Revolution" die Freiheit. Der Ruf "Havel na Hrad!", Havel auf die Burg, wurde Wirklich 2. Spalte keit, und Präsident Havel führte das Land in Nato und EU. Jan Carnogursky wurde übrigens zeitweilig Premier der Slowakei. Václav Maly wurde Weihbischof in Prag.

Wenige Tage vor dem feierlichen Beitritt von Tschechien, der Slowakei, Polens, Ungarns und Sloweniens - des alten "Ostens" - zur EU lohnt es, sich an die Zeit Mitte und Ende der Achtzigerjahre zu erinnern, als der "Osten" noch der Osten war, mit seiner ganzen atmosphärischen Tristesse, dem armseligen Lebensstandard, der eisernen politischen Repression - und doch der Ahnung von etwas anderem, das in der Luft lag.

Der - überwiegend - positive Unterschied zu heute ist so atemberaubend, dass er jüngeren, die ein Polen vor 20, eine Tschechoslowakei vor 15 Jahren nicht gekannt haben, kaum klar zu machen ist (nur in Serbien ist die geistige Situation, so wie wir sie 1985 antrafen, ziemlich gleich geblieben). Es gab einige österreichische Persönlichkeiten, die die Möglichkeit einer totalen Änderung erkannten und in nicht unwichtigem Ausmaß unterstützten: Karl Schwarzenberg, Erhard Busek, Alois Mock. Bei der Sozialdemokratie war nur Helmut Zilk mit annähernd guter Witterung begabt.

Die heimische Durchschnittsbevölkerung, groß im Fürchten und Lieber-alles-beim-Alten-Lassen, woll^te mit den Veränderungen "im Osten" nicht allzu viel zu tun haben. Inzwischen sind wir etwas pragmatischer geworden, zumindest die jüngeren Eliten erkennen die ungeheuren, teils auch tatsächlich genutzten Chancen, die die EU-Erweiterung bietet. Jedenfalls wäre es ein guter Beginn, die Beitrittsländer nicht mehr als "den Osten" zu sehen.

Das war einmal. Wie es war, daran soll in zwei kommenden Kolumnen anekdotisch erinnert werden. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20.4.2004)