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Grafik: Reuters
Wien - Reinhard Stindl ist unzufrieden mit bisherigen Evolutionstheorien. Von allen Arten, die jemals die Erde bevölkert haben, sind 99,9 Prozent wieder ausgestorben. Laut Paläontologen hatten globale Naturkatastrophen aber nur einen vierprozentigen Anteil am permanenten Artensterben. Der Rest müsste sich also im Stillen vollzogen haben, durch umwelt-und konkurrenzbedingte Prozesse.

Ablaufdatum der Menschheit im Gen

"Ich glaube nicht", sagt der Krebsforscher am Institut für Medizinische Biologie der Medizinischen Universität Wien, "dass man das Aussterben all dieser Arten mit Charles Darwins Theorie vom Survival of the Fittest erklären kann." Also stellte er im Journal of Experimental Zoology Part B: Molecular and Developmental Evolution eine neue, provokante Evolutionstheorie vor: Im Erbgut der Lebewesen ist nicht nur ihr individuelles, sondern das Ablaufdatum der gesamten Art eingeprägt, das vererbt wird. Ist die Grenze einmal erreicht, schlittern die Lebewesen in ein genetisches Desaster, das zum Aussterben der ganzen Art führen kann.

"Kopienfehler"

Grundlage seiner Theorie, erklärt Stindl dem STANDARD, ist jener biologische Prozess, der verhindert, dass sich Körperzellen unendlich oft teilen. Eine Schlüsselrolle kommt dabei den "Telomeren" zu: Diese "Schutzkappen" hängen wie Plastiklaschen an den Enden von Schuhbändern an den Chromosomen, sind auch dafür verantwortlich, dass sich das Erbgut nach erfolgter Zellteilung wieder richtig ordnet. Das Problem: Die Telomere werden bei der Replikation nicht richtig mitkopiert, bei jeder Zellteilung etwas kürzer.

Erreichen die Telomere eine kritische Länge, können sie ihre Schutzfunktion nicht mehr ausüben. Zellen hören dann entweder auf sich zu teilen oder die Chromosomen werden instabil. Dadurch kommt es zu genetischen Veränderungen, die zu Krebs und Immunerkrankungen führen können. Der Alterungsprozess resultiert demnach aus einem Abbau der Telomere und der damit verbundenen Abnahme von Zellfunktionen.

Uhr tickt über Generationen hinweg

Diese innere Uhr für das genetische Ablaufdatum, vermutet der Krebsforscher, "beginnt nicht bei jedem Individuum von neuem zu ticken, sie läuft über Generationen hinweg". Zwar werden in Ei-und Samenzellen Telomere durch das Enzym Telomerase wieder nachgebildet, aber "möglicherweise nicht vollständig". Stindl zitiert entsprechende Genanalysen von Ratten, Rindern und Pflanzen: Nach diesen setzt sich die Verkürzung der Telomere von Generation zu Generation fort.

Heute bestehen Telomere des Menschen aus 10.000 Basenpaaren, am Beginn der Menschheit könnten es etwa 50.000 gewesen sein. Bei einem hypothetischen Verlust von nur fünf Basenpaaren pro Generation und einer mittleren Generationszeit von 15 Jahren blieben der Menschheit 150.000 Jahre bis zum genetischen Crash. Geht man davon aus, dass der Mensch schon in etwa so lange auf Erden wandelt, würde der Final Countdown nun laufen.

Künstliche Verlängerung

Das Ende? Nein, beschwichtigt Stindl. Es gebe schon gentechnische Methoden, die Telomeraseaktivität zu verstärken, Telomere dadurch zu verlängern - zumindest im Labor.

Außerdem dienten seine "hypothetischen Zahlen nur als Rechenmodell" zur Veranschaulichung der Praktikabilität seiner "Species Clock" genannten Theorie: "Wie lange ein Telomer sein muss, damit es noch funktionsfähig ist, kann derzeit niemand sagen."

Verlängerung durch Inzucht

Ist es einmal zu kurz, könnte laut Stindl aber noch etwas passieren: "Isolierte Gruppen einer Art, dezimiert durch telomerassoziierte Erkrankungen, könnten durch Inzucht ihre Telomere verlängern." Labormäuse, durch Inzucht fortgepflanzt, besitzen zehnmal längere Telomere als ihre Verwandten in Freiheit. Dies führe auch zu einer neuen genetischen Struktur. So entstandene Gruppen könnten sich, falls genetische Veränderungen aufgetreten sind, zu einer neuen Art entwickeln. (Andreas Feiertag/DER STANDARD, Printausgabe, 9.4.2004)