Die Augen brauchen einige Zeit, bis sie sich an das Halbdunkel in der Kirchenruine gewöhnt haben. Dann sieht man, was hier wie verrottendes Holz herumliegt: Blutverklumpte Kleider, Knochenstücke, ganze Hände, tote Säuglinge in ihren Tragetüchern, Schädel, halbe Skelette. Es dauert Minuten, bis man erkennt, was man sieht. Es dauert Stunden, bis man begreift, was hier geschehen ist, obwohl es nicht zu verstehen ist.

Mehrere Tage hatten Hutu-Milizen die Kirche des Ortes Ntarama belagert. Am Freitag, den 15. April 1994, konnte den Mob nichts mehr aufhalten. Einige Dutzend Hutus stürmten das Kirchengelände, auf das sich rund 5000 panische Tutsis, mehrheitlich Frauen mit ihren Kindern und Alten, geflüchtet hatten. Das Schlachten begann.

Einige Hundert hatten sich im Kirchengebäude mit seinen stabilen Türen und vergitterten Fenstern verbarrikadiert, was die Mörder erst recht in Rage brachte. In stundenlanger Arbeit brachen sie Ziegel aus den Backsteinmauern der Kirche, um in das Haus zu gelangen. Dann wurden auch die letzten mit Macheten und Prügeln erschlagen und zerhackt. Von den 5000 Menschen überlebte niemand.

Heute ist die Kirche von Ntarama, rund 40 Kilometer vor der ruandischen Hauptstadt Kigali entfernt, eine der vielen nationalen Gedenkstätten an den Völkermord, der den Kleinstaat an den Großen Seen vor zehn Jahren erschütterte. Rund 600 Schädel wurden in einem eigenen Beinhaus aufgereiht, die Kirchenruine blieb mit allen Leichen so, wie sie die Mörder zurückließen. In keiner der Mauern sind Einschusslöcher zu sehen. Viele der Schädel sind so klein, dass sie Kindern gehört haben müssen, viele der Schädel sind durch Machetenhiebe gespalten oder zerbrochen.

Man sieht Dinge, die man nicht einfach glauben will, einfach nicht glauben kann, weil sich alles in einem dagegen wehrt.

Mama Francine hat die blutigen hundert Tage im Frühsommer 1994 überlebt, zumindest körperlich. Sie ist keine gebildete Frau, kann kaum schreiben und lesen. Sie arbeitet, seit sie denken kann. Ihre Mann und die vier Kindern standen im Zentrum ihres Lebens. Als die Milizen ihren Mann verschleppten, versteckte sie sich mit den Kindern in der Zwischendecke ihres kleinen Hauses. Dort hockten sie, bis sich der Mob verzogen hatte, nach zwei Tagen trieb sie der Durst aus ihrem Versteck.

Von ihrem Mann hat sie nie wieder etwas gehört, doch sie fand ein Baby auf der Straße. Das Kind nahm sie mit sich und sorgt seitdem dafür: "Ich konnte es doch nicht auf der Straße lassen." Sonst erzählt Mama Francine wenig. "Es wird nie wieder so werden, wie es war", sagt sie. Und außerdem: Wie könnte ein Weißer, ein Musungu, verstehen, was hier los war. Ihr Entsetzen, das wohl nie schwinden wird, und ihre Angst vermittelt sie ohne Worte.

Heute wissen wir, dass der Völkermord das Werk einer modernen, gebildeten Elite war, penibel geplant über Mobilisierung der Todesschwadronen, Bereitstellung von Transportmittel bis zur Entsorgung der Leichen und der Aufteilung der geraubten Ländereien.

Eine Clique von Hutu-Offizieren betrieb den Genozid mit einer Präzision, als wären die Nazis in Afrika auferstanden. Doch die Welt wollte damals nicht wahrhaben, was vor sich ging. Nicht nur die ehemaligen Kolonialmächte, UNO, USA und EU schwiegen, auch die Afrikaner verharrten tatenlos, obwohl sich der Gewaltausbruch angekündigt hatte. Am 21. April, das Schlachten war im vollen Gange, zog die UNO ihre Blauhelme aus Ruanda bis auf 270 Mann ab. Eine der schändlichsten Entscheidungen in der UN-Geschichte überließ Hunderttausende den Killern. (DER STANDARD, Printausgabe 08.04.2004)