Foto: Polyfilm

Sylvain Chomet, Jahrgang 1963, veröffentlichte 1986 seinen ersten Comicband. Später wandte er sich, zunächst als Assistent bei Werbeclips, dem Animationsfilm zu. Sein Kurzfilm "La vieille dame et les pigeons" (1996) wurde bereits vielfach ausgezeichnet, "Les triplettes de Belleville", seine erste abendfüllende Animation, hatte 2003 in Cannes Premiere. (red)

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Ein Meisterwerk des zeitgenössischen Animationsfilms kommt ins heimische Kino: "Les triplettes de Belleville" verbindet nostalgischen Charme mit schwarzen Absurditäten "moderner Zeiten". Regisseur Sylvain Chomet sprach darüber mit Claus Philipp.


Wien - Eine Großmutter, die ihren Enkel seit Kindheitstagen für die Tour de France trainiert; oder: drei greise Sängerinnen, die ihrerseits fast magische Kräfte darauf verwenden, den jungen, etwas blöden Radstar vor einer Lotto-Mafia zu retten: Les triplettes de Belleville / Das große Rennen von Belleville, geschrieben und visuell konzipiert vom jungen französischen Animationsfilmer Sylvain Chomet, präsentiert eine Welt, die einerseits mit männlicher Technik förmlich zuzuwachsen droht (was immer wieder an Jacques Tatis Komödien erinnert) - andererseits sind die matriarchalen Kräfte, die sich da oft sehr erratisch ihren Weg bahnen, nicht zu unterschätzen ...


STANDARD: Monsieur Chomet, woher kommt dieses Faible für alte Damen?

Chomet: Seltsam, oder? Dabei bitte ich zu unterscheiden: Hier die Großmama, extrem fragil, dabei aber mit einem extrem genauen Fokus darauf, was sie für ihren Enkel erreichen möchte. Und da die eher hexenhaften, zähen singenden Drillinge. Vielleicht sind dies zwei Seiten meiner Persönlichkeit - ich weiß es nicht. Alte Frauen haben mich immer schon fasziniert: Die Großmutter eines Freundes von mir, sie war 98, ziemlich klein, das älteste Wesen, das ich kannte, und man konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie sich bewegte, weil kein Muskel mehr an ihr auszunehmen war. Es schien, als würde sie nur von Gefühl getragen. Energisch zog sie ihre Kreise. Sie hat mich sicher inspiriert.

STANDARD: Dem steht in Ihrem Film eine männliche Erstarrtheit gegenüber, die sich mit verzerrtem Gesicht hügelauf, hügelab bewegt.

Chomet: Ja. Langsame, extrem schmerzhafte, mühsame Fortbewegung. Das ist auch ein wenig das Prinzip eines Zeichentrickfilms: Kader für Kader, 24-mal pro Sekunde. Es ist ungeheuer aufwändig und eigentlich absurd, so etwas Bild für Bild herzustellen.

STANDARD: Sie identifizieren sich also mit dem Radfahrer, der am Ende mit seinen Pedalen auch noch eine Filmprojektion bedienen muss?

Chomet: Ja, doch. Bedenken Sie: Der Film, den er da beständig vor sich hat, er verstellt ihm eigentlich den Blick auf die wirklichen Verhältnisse. Darunter kann man leiden, man kann sich so einen Sisyphos aber auch als glücklichen Menschen vorstellen - in jedem Fall beschreibt es meinen Job und meine Leidenschaft ganz gut. Man ist betriebsblind, man investiert Kraft ins Leere hinein - aber später, wenn man im Kino sitzt und zurückblickt zum Projektor, dann blinzelt einem das Licht zu wie ein Stern.

STANDARD: Warum spielen dieser Tage Animationsfilme im allgemeinen Bewusstsein wieder eine derart große Rolle?

Chomet: Ich glaube, dieses Genre war immer ungebrochen populär. Lange Zeit hatte aber nur Disney die Ressourcen, wirklich erfolgreich zu produzieren. Und dabei wurden die Zeichner eine Zeit lang ein wenig kitschbeflissen - jedenfalls waren sie nicht zu vergleichen mit der Radikalität, die die Besten ihres Faches (wie Chuck Jones oder Tex Avery) immer ausgezeichnet hat. In diesem Sinn sind viele Möglichkeiten des Trickfilms nicht ausgelotet - und das leider vor dem Hintergrund, dass zugunsten der 3D-Simulationen die handgezeichneten Produktionen eingestellt werden, aus Kostengründen.

STANDARD: Welche Richtungen der Animation sehen Sie zu wenig ausgereizt?

Chomet: Zuerst einmal wurde alles unterschlagen, was Trickfilme "normal" macht, sie also nicht nur an ein jugendliches Publikum adressiert. Meist werden Erwachsene als "Eltern" und "Begleitpersonen" quasi mitbedient. Dabei ist gute Animation, egal ob sie jetzt Märchen erzählt oder nicht, immer auch für Kinder interessant - wie übrigens auch guter Slapstick oder die genialen Musicals und Revuen der Zwischenkriegszeit.

STANDARD: Ihr Film evoziert diese Vergangenheit in einer Mischung aus Nostalgie und schwarzem Humor. Einer Liebe auch zu Details, für die man oft einen geradezu cinephilen Blick braucht, ein Wissen in Sachen Kulturgeschichte . . .

Chomet: Ja, der Spielzeugzug, der da einem kleinen Hund über den Schwanz fährt, ist für diesen ebenso schockierend wie für das Publikum der frühen Lumière-Filme ein Zug, der beim Einfahren in den Bahnhof gefilmt wurde. Ich habe auch viele "childhood souvenirs" in die Handlung eingebaut: alte Jacques-Tati-Filme (die Radfahrer aus dem Schützenfest etwa) oder Momente aus Singin' in the Rain ... Das war pures Entertainment, gleichzeitig aber getragen von einem faszinierenden, durchaus avantgardistischen Willen zur Abstraktion.

STANDARD: Sie scheinen völlig vernarrt in eine Hingabe an rhythmische Bewegungszusammenhänge.

Chomet: Das ergibt sich fast logisch aus dem Bild-für-Bild-Mechanismus von Trickfilmen. Ich liebe Musik. Und es gibt ganz sicher eine tiefe Affinität zwischen Musikern und Animationsfilmern. Viele Musiker, die ich kenne, zeichnen. Und viele Trickfilmer haben zumindest Melodien im Kopf, zu denen sie ihre Charaktere und Requisiten "tanzen" lassen. Oft gewinnen dann sogar die Noten selbst Gestalt und tanzen wortwörtlich mit.

Gleichzeitig hat mich immer die Kunst der Fuge fasziniert: quasi im zweidimensionalen Raum, Note für Note, Melodien erstehen zu lassen und damit dann Symmetrien zu bilden: Das war mir auch beim Drehbuch wichtig.

STANDARD: Gegen die Musik wirkt in "Les triplettes de Belleville" ein monotones Stampfen und Treten moderner Maschinen und Techniken. Finden Sie unsere "modernen Zeiten" ähnlich dämonisch wie einst Charles Chaplin oder Jacques Tati?

Chomet: Ich denke, es gibt nicht mehr allzu viel Raum für Menschen, um einfach ruhig oder gar glücklich zu sein. Überall existiert zweifelsohne zu viel Technik - auch wenn ich in gewisse technische Möglichkeiten des Kinos natürlich vernarrt bin. Ich kenne aber liebenswertere Fortbewegungsformen als Autos. Der Lärm wird immer schlimmer. Und es scheint so, als würden sich die Menschen immer mehr in eine angespannte Traurigkeit zurückziehen.

STANDARD: Andererseits scheint Komödie ebendiesen Druck förmlich zu brauchen, etwa wenn Slapstickkünstler mit Fahrrädern oder Fließbändern zu ringen beginnen. Chomet: Ja, und auch wir haben sehr viel Computertechnologie für unseren "handgezeichneten" Film gebraucht. Klar, das ist ein wenig schizophren. Aber ich sage mir immer: Computer mögen unfassbar gut ausgestattet und sehr schnell sein, aber kreativ und intelligent sind sie nicht. Es lag also an uns, sie für "Bewegungen" einzusetzen, die man früher im Trickfilm nicht so zeigen konnte: Rollende Fahrräder zum Beispiel wären vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen. Wir haben uns halt darum gekümmert, dass das bei aller Rechnerleistung weiterhin "menschlich" aussieht. (DER STANDARD, Printausgabe, 8.4.2004)