Um 20 Jahre hat sich George Orwell verschätzt. Nicht 1984, sondern 2004 wird seine Vision vom "großen Bruder", der mit elektronischen Augen die Bürger ständig beobachtet, Realität. Der Hintergrund ist allerdings (noch) weniger die totale Überwachung aus politischen Motiven, sondern eine ökonomische Überlegung: Mit Hilfsmitteln wie Videokameras können weniger Polizisten mehr Aufgaben schneller erledigen.

Und deren fallen genügend an, wenn man die Entwicklung bei der Eigentumskriminalität in den letzten Jahren betrachtet. Alle zwanzig Minuten wird rechnerisch irgendwo eingebrochen, bei den Versicherungen überstieg im Jahr 2003 erstmals die Schadenssumme derartiger Delikte die einbezahlten Prämien. Gleichzeitig wurde bei der Exekutive gespart: Postenschließungen, Streichung von Überstunden, weniger Neuaufnahmen von Polizei- und Gendarmerieschülern. Verständlich, dass der Innenminister daher technische Möglichkeiten nutzen will, um das für die Sicherheit nötige Budget niedrig zu halten. Die Frage, inwieweit dabei Grundrechte gefährdet werden, muss noch ausdiskutiert werden.

Die ökonomischen Zwänge haben aber weiter reichende Folgen: Denn es geht auch um die Frage, wie weit Sicherheit privatisierbar ist. Ein erster Schritt war die Kontrolle der Lkw-Maut, wo Privatangestellte in Blaulichtfahrzeugen unterwegs sind und die Möglichkeit haben, Fahrzeuge an der Weiterfahrt zu hindern. Innenminister Strasser kann sich auch vorstellen, auf anderen Gebieten (Stichwort Alarmanlagen) mit der Sicherheitsindustrie zu kooperieren. Die nächste Überlegung könnte dann sein, dass die Videoüberwachung neuralgischer Punkte durch Private ebenfalls billiger ist - womit es dann plötzlich nicht einen großen, sondern viele kleine Brüder geben würde. (Michael Möseneder/DER STANDARD; Printausgbe, 31.3.2004)