Die selbstgefällige und überhebliche Kritik kommt oft aus Ländern, in denen nicht alle paar Wochen Schulbusse, Straßencafés oder Discos durch Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt werden. Es geht dabei freilich nicht nur um die Schwierigkeit, Israel zu kritisieren, ohne in den Verdacht des offenen oder unterschwelligen Antisemitismus zu geraten. Auch in Israel selbst, ja sogar in der Koalitionsregierung unter Premier Sharon, wurde dieser folgenschwere Schritt kritisiert.

Wohlgemerkt nicht deshalb, weil der querschnittgelähmte Yassin als wehrloses Opfer aus Hubschraubern erschossen wurde, sondern wegen der politischen und militärischen Folgen des Aktes, den so mancher Kritiker als offenen Übergang zum "Staatsterrorismus" bezeichnet. Es geht bei den Diskussionen in Israel selbst und auch im Kreise jener, die die existenzielle Bedrohung des kleinen Staates nie vergessen, nicht um Ethik oder Moral, sondern um den Sinn solcher Aktionen.

Gerade darin liegt die Stärke und für die Anhänger der starken Hand auch die Schwäche der israelischen Demokratie, dass auch in diesen Fragen die Regierung und vor allem Sharon schonungslos kritisiert wird.

So schrieb die einflussreiche Zeitung Ma'ariv: "Die Sharon-Politik kleiner taktischer Schritte endet meistens in Tränen, Blut und einer Untersuchungskommission." Yediot Ahronot schrieb, es habe sich um eine Operation "aus dem Bauch" gehandelt, "eine völlig emotionale Politik, die von der schrecklichen Frustration der israelischen Regierung gespeist wird, die dem Terror machtlos gegenübersteht".

Wenn auch laut Umfragen mehr als 60 Prozent der befragten Israelis die Tötung Yassins befürworten, sehen je nach Umfragen 55 bis 80 Prozent "auf kurze Sicht" eine neue Serie von Anschlägen auf sich zukommen. Der Justiz- und der Innenminister waren in der entscheidenden Regierungssitzung gegen den Anschlag, weil sie, wie so viele andere, die Tötung des Anstifters des Hamas-Terrors für kontraproduktiv gehalten haben.

Unabhängig davon, ob und wann die nächsten Terroranschläge kommen, hat Israel im weltweiten Medienkrieg wieder eine lange nachwirkende Niederlage erlitten. Für die ganze arabische Welt ist der Hamas-Führer zu einem Märtyrer geworden, ohne Rücksicht darauf, dass er sich nie von Attentaten distanziert, ja sie ausnahmslos befürwortet hatte. Die Spirale der Gewalt im Nahen Osten und vor allem in Israel wird sich weiter drehen und durch die "verzweifelt falsche israelische Politik" (Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung) verliert Israel noch mehr Freunde, ohne dabei künftige Terrormorde verhindern zu können.

Wer erinnert sich noch daran, dass unter Regierungschef Barak Israel zu maximalen Zugeständnissen, nicht zuletzt unter dem Druck des US-Präsidenten, bereit gewesen war? Die Extremisten haben auf beiden Seiten gewonnen.

Sharon mag durch die Tötung Yassins seine Kritiker am rechten Rand in Schach halten, doch züchtet er mit dieser Politik noch mehr Feinde und befremdet noch mehr Freunde. In diesem mörderischen Konflikt, bei dem die eine Seite das Existenzrecht der anderen bestreitet, gibt es keine Sieger, aber auch keine Hoffnung, dass der jüdische Staat auf lange Sicht in Frieden und Sicherheit inmitten einer von abgrundtiefem Hass erfüllten und zahlenmäßig immer überlegener werdenden arabischen Welt leben kann. (DER STANDARD, Printausgabe, 25.3.2004)