Der moderne Pharmamanager muss sich von Quartalsbericht zu Quartalsbericht vorwärts turnen, die Aktionäre wollen Herausragendes sehen und lukrieren, und das geht nur mit massiven, "Blockbuster" genannten Marktfegern, die riesige Bevölkerungsgruppen erreichen müssen.

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Ein Industriezweig hat sich in den Wucherungen des Gesundheitswesens besonders effizient eingenistet und es verstanden, seine Gesetzmäßigkeiten zu beeinflussen und zu nutzen: Die Pharmaindustrie hat dem Medizinbetrieb seit gut einem Jahrhundert den Stempel aufgedrückt.

Heute werden pensionierte Pharmamanager wehmütig, wenn sie an die Zeiten der "ethischen Industrie" zurückdenken, als es noch notwendig war, zumindest nach außen hin hohe ethische Grundsätze der Medizin mit dem logischen Interesse der Gewinnmaximierung im eigenen Betrieb zu verknüpfen.

"Blockbuster"

Das ist nicht mehr so. Kaum einer der traditionellen großen Konzerne trägt noch seinen alten Namen, und kaum einer fühlt sich noch solchen Ansprüchen verpflichtet. Der moderne Pharmamanager muss sich von Quartalsbericht zu Quartalsbericht vorwärts turnen, die Aktionäre wollen Herausragendes sehen und lukrieren, und das geht nur mit massiven, "Blockbuster" genannten Marktfegern, die riesige Bevölkerungsgruppen erreichen müssen. Dass die Pharmabosse über all den Mühen des Kasinokapitalismus ihre Herrschaft über die Köpfe der Mitarbeiter des Medizinsystems nicht verloren haben, ringt Bewunderung ab.

Neben der intransparenten direkten Einflussnahme auf Politik und wirtschaftliche Rahmenbedingungen gehört die Steuerung der öffentlichen Meinung in der Informationsgesellschaft zu den zentralen Werkzeugen großer Lobbys. Die Pharmaindustrie hat diese Lektionen gut verarbeitet und führt den Krieg um die Köpfe mit der Schlagkraft einer modernen Armee und allen Tricks zur Manipulation der Öffentlichkeit.

Auch nach dem Ende des Industriezeitalters mit seinem mechanistischen Weltbild von den Körperfunktionen mitten in der Informationsgesellschaft mit ihrem Wissen über die Komplexität des menschlichen Organismus gelingt es ihr scheinbar mühelos, den Menschen der reichen Staaten chemische Rezepturen – nun halt gentechnisch verfeinert – als Lösung ihrer Gesundheitsprobleme anzudrehen und dabei auch noch zu den profitabelsten Industriesparten zu gehören. Ein Kunststück, das zu näheren Betrachtungen herausfordert.

Chemie im Zentrum

Mit der massiven Einflussnahme auf Denken und Handeln der Medizinerzunft hat die chemische Industrie in rund einem Jahrhundert fast alle anderen Forschungsrichtungen und Denkansätze in der medizinischen Forschung an den Rand gedrängt.

Da mag die Psycho-Neuro- Immunologie noch so eindrucksvoll belegen, wie stark die psychische Verfassung das Immunsystem und damit die Prozesse der Erkrankung und Gesundung steuert, da mag die Epidemiologie noch so genau nachvollziehbar machen, wie sehr Lebensbedingungen über Gesundheit oder Krankheit entscheiden, da mögen sämtliche traditionellen, auf Erfahrung beruhenden Heilkunden dieser Welt gleich welcher Kultur Gesundheit und Krankheit als Produkt sozialer Beziehungen begreifen – der gesamte Medizinbetrieb bleibt seinem röhrenförmigen Denken und den ritualisierten Handlungen verhaftet: Einer "Diagnose" genannten mechanischen Zuordnung von Beschwerden zu ein, zwei Körperfunktionen folgt eine "Therapie" genannte Verabreichung von ebenso vielen Chemikalien.

Ein teures Ritual

Ein teures Ritual: Die Kosten für Arzneimittel galoppieren seit Jahren allen Einsparungsbemühungen zum Trotz überproportional davon. Schuld an den explosionsartig steigenden Arzneikosten sind nicht noch mehr ärztliche Verordnungen – die lassen sich angesichts der Tatsache, dass ein 65-jähriger Bürger heute durchschnittlich täglich sechs Arzneimittel schluckt, kaum vermehren. Die enormen Kostensteigerungen entstehen fast ausschließlich durch den Ersatz vorhandener durch neue, stets teurere Präparate, die von den Konzernen gepusht werden – angeblich zum Nutzen der Patienten.

Fragwürdige Neuheiten

Arnold Relman und Marcia Angell, zwei ehemalige Chefredakteure des New England Journal of Medicine haben die Behauptung überprüft und die Neuerungen gründlich analysiert. Das ernüchternde Ergebnis: Nur 15 Prozent der seit 1990 neu zugelassenen tausend Präparate enthalten Wirkstoffe, die den Patienten tatsächlich nachweisbar mehr nützen als ihre Vorgänger.

In Wahrheit ist Marketing, die Erforschung und Bearbeitung der Märkte, das eigentliche Kerngeschäft der Pharmabranche. Gut ein Drittel aller Erlöse werden dafür eingesetzt, dem gesamten Medizinbetrieb einen prägenden Stempel aufzudrücken.

Nahezu jeder Mediziner wird vom Studium bis zum Ruhestand heftigst umworben. Ein Autor der Zeitschrift der Amerikanischen Ärztevereinigung hat berechnet, dass für einen einzigen Arzt pro Jahr durchschnittlich 10.000 Euro aufgewendet werden, um sein Verschreibungsverhalten zu beeinflussen. Rund 3000 Pharmareferenten sorgen allein in Österreich dafür, dass ein Durchschnittsmediziner 170-mal pro Jahr besucht und mit Infos über die Vorteile der tollsten Neuheiten bearbeitet wird – das ist weit mehr als ein Vertriebsapparat in jeder anderen Branche. (Kurt Langbein, Der Standard, Printausgabe, 23.03.2004)