"Kleiner Leitfaden für den Messias" heißt ein vom Wiener Maler und Illustrator Andreas Leitner herausgegebener Band im Gebetsbuchformat, in dessen Zentrum 64 Ölbilder aus Leitners "Gotteskinder"-Zyklus stehen, aus dem wir hier "Osama Bin Laden", "Jesus" und "George W. Bush" zeigen. Ergänzt werden die Bilder durch religiöse Texte von Buddha bis zu Matthäus und "Gespräche über Gott", unter anderem mit Adolf Holl. (Zu beziehen unter: a.leitner@aon.at).

Quelle: Ölbilder aus Leitners "Gotteskinder"-Zyklus
Die Legitimation jener, die Mel Gibsons neuen Film über die letzten zwölf Stunden des Lebens von Jesus Christus noch vor dem Filmstart heftigst kritisieren, scheint über jeden Zweifel erhaben: Sind sie nicht zu Recht besorgt, dass der Film, der von einem fanatischen Anhänger eines traditionellen Katholizismus, von dem auch gelegentliche antisemitische Ausbrüche überliefert sind, antisemitische Gefühle auslösen könnte? Allgemeiner gesagt: Ist "Passion" nicht eine Art Manifest unserer eigenen (westlich-christlichen) Fundamentalisten und der Gegner der Loslösung der Kirche vom Staat? Müsste dann nicht jeder im Westen lebende Anhänger der Säkularisierung das Werk ablehnen? Ist ein derart eindeutiger Angriff nicht unerlässliche Bedingung, wenn wir klarstellen wollen, dass wir keine versteckten Rassisten sind, die nur den Fundamentalismus anderer (der Muslime) angreifen?

Die Reaktion des Papstes auf den Film ist bekannt: Tief bewegt hat er "Es ist, wie es war" gemurmelt - eine Aussage, die von den offiziellen Sprechern des Vatikans schnell wieder zurückgezogen wurde. Diese spontane Reaktion wurde in der Folge rasch durch eine "offizielle", neutrale Haltung ersetzt, korrigiert, um niemanden vor den Kopf zu stoßen. Dieser Schwenk ist das beste Beispiel um zu zeigen, was an der Haltung dieser liberalen Toleranz falsch läuft, was nämlich falsch läuft mit der Angst der politisch Korrekten, dass irgend jemandes religiöse Gefühle verletzt werden könnten: Selbst wenn es in der Bibel heißt, dass der jüdische Mob den Tod Christus' verlangt habe, darf dies nicht direkt inszeniert werden, sondern muss entschärft und so dargestellt werden, dass daraus hervorgeht, dass die Juden nicht kollektiv für die Kreuzigung verantwortlich gemacht werden können. Die aggressive Leidenschaft in der Religion wird dabei lediglich unterdrückt: Sie ist weiterhin da, schwelt unter der Oberfläche ohne Ventil und wird immer stärker.

Vor diesem Hintergrund ist die einzig "leidenschaftliche" Antwort auf die Passion des Fundamentalismus ein aggressiver Akt der Säkularisierung, wie ihn erst kürzlich Frankreich gesetzt hat, als die Regierung das Tragen aller auffälligen religiösen Symbole und Kleidungsstücke in Schulen verboten hat (nicht nur Kopftücher muslimischer Frauen, sondern auch die Kippa der Juden und zu große christliche Kreuze). Die Konsequenzen dieser Maßnahme sind nicht schwer vorauszusagen: Verbannt aus dem öffentlichen Raum, werden sich die Muslime gezwungen sehen, sich zu fundamentalistischen Gemeinschaften zusammenzuschließen, die nicht integriert sind . . . Lacan hatte Recht, als er auf die Verbindung zwischen dem Gesetz der postrevolutionären Fraternité und der Logik der Segregation hinwies.

Vielleicht wird gerade durch das Verbot, einen Glauben mit voller Hingabe zu leben, erklärt, warum sich heutzutage der Begriff "Kultur" immer stärker als die zentrale Kategorie des Lebens herauskristallisiert. Religion ist wohl erlaubt - nicht als grundlegender "Way of Life", sondern als spezifische "Kultur" oder mehr noch, als Phänomen des Lifestyles: Sie wird nicht durch die immanente Wahrheitsbehauptung legitimiert, sondern durch die Art und Weise, wie sie es uns möglich macht, unsere innersten Gefühle und Einstellungen auszudrücken. Wir "glauben" nicht mehr "wirklich", sondern wir folgen nur noch (einigen) religiösen Ritualen und Gebräuchen als Zeichen des Respekts für den Lebensstil jener Gemeinschaft, der wir angehören (man erinnere sich an den sprichwörtlichen nicht gläubigen Juden, der "aus Respekt vor der Tradition" koscher lebt). Was bedeutet "kultureller Lebensstil", wenn nicht die Tatsache, dass - obwohl wir nicht an den Weihnachtsmann glauben - im Dezember in jedem Haus und auf allen öffentlichen Plätzen Weihnachtsbäume stehen? Vielleicht ist der Begriff "Kultur" daher die Bezeichnung für jene Dinge, die wir machen, ohne daran zu glauben bzw. ohne sie tatsächlich "ernst zu nehmen". Ist das nicht auch die Ursache dafür, dass Wissenschaft nicht Teil dieses Begriffes "Kultur" ist - ist sie einfach zu real? Und ist dies nicht auch der Grund, warum wir gläubige Fundamentalisten als "Barbaren" abtun, als nicht zivilisiert, als Bedrohung für die Kultur - da sie es wagen, ihren Glauben ernst zu nehmen?

Heute sehen wir jene, die ihre Kultur tatsächlich leben, jene, die keine Distanz zu ihr zeigen, als Bedrohung für unsere an. Man erinnere sich an die Empörung vor drei Jahren, als die Taliban in Afghanistan die antiken Buddhastatuen in Bamiyan sprengten: Obwohl keiner von uns aufgeklärten Westlern an die Göttlichkeit von Buddha glaubt, waren wir völlig aus dem Häuschen, als die Taliban den nötigen Respekt für das "kulturelle Erbe" ihres eigenen Landes und der gesamten Menschheit vermissen ließen. Anstatt wie alle anderen kulturbeflissenen Menschen den anderen zu glauben, folgten sie tatsächlich ihrer eigenen Religion und hatten daher für den kulturellen Wert der Denkmäler anderer Religionen nur wenig übrig - für sie waren die Buddhastatuen falsche Symbole, kein "Kulturerbe". (Ist diese Empörung übrigens nicht vergleichbar mit der Haltung des aufgeklärten Antisemiten von heute, der, obwohl er nicht an Jesus Christus glaubt, dennoch die Juden für den Tod unseres Herrn verantwortlich macht? Oder mit der Einstellung des weltlichen Juden, der, obwohl er nicht an Jehova und Moses als seinen Propheten glaubt, trotzdem überzeugt ist, ein göttliches Recht auf das Land Israel zu haben?)

All das ist der Grund, weshalb Leidenschaft als solche als "politisch unkorrekt" gilt: Es scheint zwar alles erlaubt zu sein, aber Verbote werden lediglich verdrängt. Man denke an die Festgefahrenheit der Sexualität oder der Kunst heutzutage: Gibt es etwas Langweiligeres, Opportunistischeres oder Nutzloseres, als dem Gebot des Super-Ego zu folgen, ständig neue künstlerische Grenzgänge und Provokationen zu ersinnen (der Performancekünstler masturbiert auf der Bühne oder fügt sich in masochistischer Absicht Schnittwunden zu; ein Bildhauer stellt verwesende Tierkörper aus oder menschliche Exkremente . . .) oder sich auf immer "gewagtere" Formen der Sexualität einzulassen? Aus einigen "radikalen" Zirkeln in den USA kam kürzlich der Vorschlag, die Rechte von Nekrophilen (Sex mit Toten) zu "überdenken" - warum sollte man sie ihnen entziehen? Deshalb wurde die Idee geboren, dass man, ebenso wie man seinen Körper für medizinische Zwecke zur Verfügung stellt, per Dekret veranlassen kann, dass Nekrophile damit spielen können.

Am heutigen Markt finden wir eine ganze Reihe von Produkten, die von ihren negativen Eigenschaften befreit wurden: Kaffee ohne Koffein, Schlagsahne ohne Fett, Bier ohne Alkohol . . . Und die Liste lässt sich fortsetzen: Was ist beispielsweise mit virtuellem Sex als Sex ohne Sexualität? Was mit Colin Powells Doktrin vom Krieg ohne Tote (natürlich nur auf unserer Seite), nämlich ein Krieg, ohne Krieg zu führen, oder mit der modernen Redefinition von Politik, die als die Kunst der Verwaltung durch Experten zu verstehen ist, als Politik ohne Politik? Das reicht bis zum Glauben light - ein Glaube, der niemandem wehtut und dem wir selbst nicht einmal voll verpflichtet sind.

Zwei Aspekte machen heute eine tolerante, liberale Einstellung gegenüber den anderen aus: einerseits der Respekt vor und die Offenheit gegenüber dem Anderssein UND zweitens die große Angst vor Belästigung - kurz gesagt: Der andere ist okay, solange seine Gegenwart nicht unangenehm ist, solange der andere nicht tatsächlich anders ist . . . Genau das kristallisiert sich immer mehr als zentrales "Menschenrecht" der spätkapitalistischen Gesellschaft heraus: nämlich das Recht, nicht belästigt zu werden, zum Beispiel in sicherer Distanz zu den anderen gehalten zu werden. Eine ähnliche Struktur ist darin erkennbar, wie wir mit kapitalistischer Geschäftemacherei umgehen: Es ist in Ordnung, solange es mit Wohltätigkeitsaktionen Hand in Hand geht, welche die Effekte mildern - zuerst werden Milliarden angehäuft, dann gehen sie - teilweise - zurück an die, die es brauchen . . . Nämliches gilt für den Krieg, für die immer häufiger propagierte Logik eines humanitären oder pazifistischen Militarismus: Einen Krieg zu führen ist okay, solange das tatsächlich zu Frieden und Demokratie führt oder solange zumindest Bedingungen geschaffen werden, unter denen humanitäre Hilfe gewährt werden kann.

Bedeutet das jetzt, dass wir als Gegenpol zu der falschen Toleranz des liberalen Multikulturalismus zu religiösem Fundamentalismus zurückkehren sollen? Die ausgesprochene Lächerlichkeit von Gibsons Film zeigt deutlich, dass eine derartige Lösung unmöglich ist. Gibson wollte den Film zuerst in Latein und Aramäisch drehen und ihn ohne Untertitel zeigen, unter dem Druck der Verleihfirmen gestattete er später englische (und andere) Untertitel. Dieser Kompromiss seinerseits ist nicht nur eine Konzession an den kommerziellen Druck; hätte er am Originalplan festgehalten, wäre wahrscheinlich direkt zu sehen, wie sich Gibsons Projekt selbst ad absurdum führt. Man stelle sich vor, wie dieser Film ohne Untertitel in einem großen Einkaufszentrum einer amerikanischen Vorstadt gezeigt wird: Die Treue zum Original, die man im Auge hatte, wäre in ihr genaues Gegenteil verkehrt worden, in ein unverständliches, exotisches Spektakel.

Doch es gibt noch eine dritte Position, über religiösen Fundamentalismus und liberale Toleranz hinaus. Kehren wir zur "politisch korrekten" Unterscheidung zwischen islamischem Fundamentalismus und Islam zurück: Bush und Blair (sogar Sharon) vergessen niemals, den Islam als große Religion der Liebe und der Toleranz zu preisen, die nichts mit den widerlichen Terrorakten zu tun habe. Genauso, wie diese Unterscheidung zwischen "gutem" Islam und "bösem" islamistischem Terror schlicht falsch ist, sollte auch die typisch "radikal-liberale" Unterscheidung zwischen Juden und dem israelischen Staat oder dem Zionismus als Problem gesehen werden. Zum Beispiel die Bestrebungen, den Spielraum zu erweitern, in dem Juden und jüdische Bürger Israels die Möglichkeit haben, den Staat für Israels Politik und die zionistische Ideologie zu kritisieren, nicht nur ohne des Antisemitismus bezichtigt zu werden, sondern sogar mehr noch, ohne ihre Kritik so zu formulieren, dass sie auf einer sehr leidenschaftlichen Bindung an das Jüdischsein basiert, beziehungsweise an das, was als bewahrenswertes jüdisches Vermächtnis erachtet wird.

Reicht das nun eigentlich aus? Marx sagte über den "petit bourgeois" (Kleinbürger), dass er immer und überall zwei Seiten sehe, gut und böse, und dass er versuche, das Gute zu behalten und das Böse zu bekämpfen. Im Zusammenhang mit dem Judaismus sollte man denselben Fehler vermeiden: den "guten" gerechten Judaismus in der Tradition Lévinas, mit Respekt vor und Verantwortungsgefühl gegenüber den anderen etc., gegen die "böse" Tradition von Jehova mit seinen Anfällen von Rache und Völkermord am benachbarten Volk zu stellen.

Man sollte seinen Mut zusammennehmen und diese Kluft, diese Spannung in das Zentrum, die Seele des Judaismus übertragen: Es geht nicht mehr darum, die reine jüdische Tradition von Gerechtigkeit für und Liebe zum Nachbarn gegen die aggressive zionistische Erklärung des Nationalstaates zu verteidigen. Genauso sollte man, anstatt die Größe des wahren Islam im Gegensatz zum Missbrauch durch fundamentalistische Terroristen zu zelebrieren oder anstatt zu beklagen, dass unter allen großen Religionen der Islam jene ist, die sich am hartnäckigsten gegen Modernisierung wehrt, diese Haltung als Chance erkennen: Das führt nicht notwendigerweise zum "Islamo-Faschismus", es kann sich auch in einem sozialistischen Projekt niederschlagen. Genau weil im Islam die "schlimmsten" Kräfte der Faschistischen als Antwort auf unser gegenwärtiges Dilemma zu finden sind, kann es sich ebenso gut herausstellen, dass er der Hort für das "Beste" ist.

Anstatt zu versuchen, die reine ethische Lehre, den Kern einer Religion gegen dessen politische Instrumentalisierung zu stellen, soll genau das unbarmherzig kritisiert werden - und zwar bei allen Religionen. Heute, wo Religionen (von New Age bis zum billigen spirituellen Hedonismus eines Dalai Lama) nur allzu bereit sind, der postmodernen Suche nach Genuss und Vergnügen zu dienen, kann paradoxerweise nur ein konsequenter Materialismus eine wahrhafte asketische militante ethische Haltung tragen. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 13./14.3.2004) Übersetzung: Luzia Schrampf