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Foto: apa

Die Hotellobby im Latvija ist gespenstisch leer, sie erinnert an ein Parkhaus. Durch die Fenster zieht eisige Winterluft, und der Heizkörper ist bestenfalls lauwarm. Sehr gemütlich ist das nicht, daran ändert auch die tadellose Aussicht des Zimmers im 15. Stock nichts. Wallander weiß nicht, was ihn mehr irritieren soll, die blonden Prostituierten an der Hotelbar oder die Abhörwanze, die er in seinem Wecker findet.

Wir befinden uns zum Glück nur in einem Roman: Mit "Hunde von Riga" hat der schwedische Autor Henning Mankell 1992 seinen zweiten Krimi geschrieben, in dem Kurt Wallander ermittelt. Das Buch ist ziemlich düster geworden. Wallander, der schon am Wohlfahrtsstaat Schweden genug auszusetzen hat, findet sich im benachbarten Lettland auf einem Horrortrip wieder: Er wird rund um die Uhr beschattet und ist Spielball zwischen KGB-Leuten und Untergrundkämpfern. Ein unglückliches Land, denkt Wallander, "verletzt, zerfleischt wie ein waidwundes Tier".

Historischer Hintergrund

Der historische Hintergrund gibt ihm Recht: Erst 1991 wurde Lettland, das mit 1. Mai 2004 Teil der EU wird, unabhängig und damit frei von seinen russischen Besatzern, in einer traumatisch wechselhaften Geschichte, in der auch Schweden und Deutschland kurz die Vorherrschaft übernommen hatten.

Riga, 2004. Das Hotel Latvija, zu Sowjetzeiten ein nobles Getto für Westbesucher, ist mittlerweile wie jedes x-beliebige Hotel rund um den Globus: groß und schick. Zwei stilvolle Panoramalifte tragen einen in den 26. Stock zur Bar. Die verschneiten Dächer und der Gedanke, wie grün Riga im Sommer sein muss, ziehen einen so in den Bann, dass das Naheliegende - eine Packung Tabletten am Boden - nicht sofort auffällt. Ausgerechnet Viagra ist jemandem aus der Tasche gefallen - die Zeiten haben sich zwar geändert, aber, wie eine lettische Wochenzeitung ironisch anmerkt, in der einst russischen Kellerbar (heute: Voodoo Casino) trifft man noch immer "friendly women" .

Metapher für das Land

"Wahrscheinlich ist das Hotel Latvija eine Art Metapher für unser Land", sagt Ieva Priediena, Tourmanagerin des Theaterregisseurs Viesturs Kairiss, "wir wollen möglichst schnell vom Kommunismus zum Kapitalismus." Die Bar im 26. Stock ist dementsprechend eine typische "Lost in Translation"-Bar, sie will, wie jene in Sofia Coppolas Film, am liebsten New York nacheifern. Man versinkt in roten Sitzen vor einem spektakulären Ausblick bei dämmrigem Kerzenlicht in einer zeit-und raumlosen Atmosphäre.

Beim Spaziergang durch die alte Kaufmannsstadt spiegelt sich die Sonne auf dem Kopfsteinpflaster, die Innenstadt besteht aus engen Gässchen mit liebevoll renovierten Häusern aus Jugendstil, Renaissance oder Gotik. Zum Architekturmix kommt das Sprachmischmasch aus Russisch und Lettisch: je näher dem Zentralmarkt beim Bahnhof, desto russischer.

Am Zentralmarkt beim Bahnhof

In den vier riesigen Hallen (ursprünglich deutsche Zeppelinfabriken) quellen die Sauerkrautberge über, ein Gedränge herrscht auf dem Fleisch-, Fisch- und Gemüsemarkt, im Freien wuchern unübersehbar die Stände mit Schuhen, Kleidern und sonstigem Krimskrams. Hier draußen ist Russendisco, in den Hüttchen, die vollgekramt sind mit CDs und Kassetten von Reflex, Jasmin und wie die angesagten russischen Popbands alle heißen, stehen dick vermummte Frauen, die kaum Englisch, wenig Lettisch sprechen.

Hier ist noch immer Osten, auch wenn beim Bahnhof in nur einem Jahr zwei neue große Einkaufszentren entstanden sind und die kleinen Läden mehr und mehr verschwinden. An die 800.000 Russen leben im Land und stehen den rund 1,6 Millionen Letten nicht ohne soziale Spannung gegenüber. Etwa ein Drittel der Bewohner des Landes spricht noch heute kein Lettisch.

Nasse Schuhe gehören zum Alltag

Überquert man auf der Vanu-Brücke den Daugava Fluss, liegen wie auf einer kleinen Insel alte Holzhäuser. Die Straßen sind holprig, schnelles Fahren erübrigt sich auch ohne Verkehrsschilder. Es ist wie auf dem Land, und doch mitten in der Stadt. Nasse Schuhe gehören zum Alltag. Im Winter, wenn der Fluss zugefroren ist, sieht man Männer Eis fischen, Kinder Schlittschuh laufen. Ieva erzählt, dass die alten Häuser für die neuen Letten plötzlich reizvoll sind. Architekten renovieren mehr oder minder sensibel die alte Bausubstanz, und ein neuer Nobelwohnort, eine Naherholungsoase mitten in der Stadt, entsteht.

Zurück im Hotel Latvija: Ganz oben, im 27. Stock, ist die Sauna, klein, aber mit Glaswänden und Ausblick auf die beleuchteten Boulevards von Riga. Die beiden Amerikanerinnen in der Umkleidekabine, Geschäftsfrauen, die in Riga arbeiten, haben keinen Blick dafür. Sie stürzen sofort in den Fitnessraum auf die Fahrräder. Ihr Training wartet auf sie, ob in Riga, New York oder Paris - die Skyline ist eine auswechselbare Tapete. (Der Standard/rondo/12/03/2004)