Jede Einstellung ein Verweis auf eine permanentes Klima der Bedrohung: "Osama" von Siddiq Barmak wurde in Afghanistan gedreht.

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Siddiq Barmaks "Osama" demonstriert prekäre Rollenbilder sowie gefährliche Rollenwechsel und Täuschungsmanöver - und lässt dabei selbst als Spielfilm Wünsche nicht in Erfüllung gehen.


Wien - Es war einmal ein Knabe, der davon träumte, ein Mädchen zu sein, und damit sich sein Wunsch erfüllte, empfahl ihm ein Weiser, durch einen Regenbogen zu gehen. Die Großmutter erzählt in Siddiq Barmaks Film Osama ihrer Enkelin wiederholt dieses Märchen, aber die Realität von Afghanistan unter dem Talibanregime verlangt eine andere Art von Rollenwechsel.

Da es Frauen untersagt war, ohne Burka in die Öffentlichkeit zu gehen, verfällt eine Familie - der Vater ist im Krieg gegen die Sowjetunion gefallen - auf die Idee, die Tochter als Buben auszugeben, um den Lebensunterhalt zu sichern. Man schneidet ihr die Zöpfe ab und lässt sie bei einem Milchverkäufer kleine Dienste verrichten. Doch die Arbeit behält sie nicht lang. Sie wird - wie alle Buben - in die Koranschule geschickt, wo sie Gebetsunterricht erhält, aber in der Angst lebt, dass ihr höchst riskantes Täuschungsmanöver auffliegt.

Erahnte Identität

Osama wird sie erst dort in der Not getauft. Ein eingeweihter Freund gibt ihr den Namen des Al-Qaida-Führers, um die Meute zu bremsen, die unter der neuen Identität die alte erahnt hat: Die Stimme des Buben ist natürlich zu hoch, und seine Füße und Hände sind zu weiblich. Nicht nur nur mit dieser Symbolik verfolgt Barmaks Film vor allem demonstrative Absichten und bevorzugt über weite Strecken eindeutige Bilder gegenüber komplexeren Zusammenhängen.

Als erster Film nach dem Sturz der Taliban wird Osama international (und nicht ohne werbetechnisches Kalkül) vertrieben. Der Regisseur, vormals Leiter des nationalen Filmarchivs Afghan Films, ist tatsächlich aus dem pakistanischen Exil zurückkehrt, um Osama vor Ort mit Laiendarstellern zu drehen. Das Paradoxe an der Rezeptionsgeschichte der Arbeit ist indes mittlerweile, dass sie nunmehr vor allem im Westen ein interessiertes Publikum findet, während sie in Afghanistan selbst noch kaum gezeigt und diskutiert werden konnte.

Die Versuchung, das Terrorregime ganz direkt zu attackieren, muss für Siddiq Barmak groß gewesen sein. Er entgeht ihr, indem er seinen Blick bevorzugt auf die Opfer richtet, die Ordnungshüter hingegen kaum individualisiert, sondern eher als permanente Instanz der Bedrohung benützt. Immer wieder setzt er Exempel, die das Hauptgeschehen umranden: Anfangs wird etwa eine Demonstration von Frauen mit Wasserwerfern aufgelöst; und der westliche Journalist, der dabei filmt, wird später exekutiert, ohne dass ihm jemals ein Prozess gemacht wird.

Der iranische Regisseur Mohsen Makhmalbaf, der Osama zu finanzieren half, hat mit Reise nach Kandahar bereits vor zwei Jahren einen Film über Afghanistan gemacht, der den Schrecken der Taliban mit Poesie zu bändigen versuchte. Dem setzt Barmak nun einen unmittelbareren Zugang, eine Art Binnenperspektive entgegen, die reportagehafte mit metaphorischen Elementen kombiniert.

Die Stellvertreterin

Die Angst des Mädchens Osama steht darin stellvertretend für viele afghanische Frauen. Indem der Film seine Protagonistin in eine Männerdomäne schickt, vermag er aber auch die Gegenseite zu zeigen - die Indoktrinierung des männlichen Geschlechts. In der Schule etwa, wo es keinerlei Form von Widerstand gibt, werden sie und die Betrachter etwa zu Zeugen des Drills an den Buben. Das gemurmelte Lesen des Korans bildet unterdessen den Kontrast zu dem Gewimmer der Frauen, das den Film wie ein Leitmotiv permanent durchzieht.

Osama wird schließlich durch ihre einsetzende Menstruation als Mädchen entlarvt und damit sofort sexualisiert: Von einem Gericht an einen alten Mullah verheiratet, der schon einige andere Frauen in seinem Haus eingesperrt hält, empfängt sie als Hochzeitsgeschenk ein Vorhängschloss. Es ist das letzte, drastische Bild eines Films, in dem Wünsche niemals in Erfüllung gehen - und Märchen Märchen bleiben müssen. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.3.2004)