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Die Seidlung Tuktoyaktuk an der Eismeergrenze mit knapp 1000 Einwohnern

Foto: Archiv
Wohin mit all dem Zeug, das nur im kurzen Sommer gebraucht wird? Mit den Dingen des langen Winters? Neben das Haus. Hinter das Haus. Vor das Haus. Irgendwo hin, Hauptsache in der Nähe. Tuktoyaktuk wirkt in seiner Struktur so zufällig wie ein Sperrmüllhaufen, und so akkurat manches Wellblechhaus auf Metallstelzen dem Permafrostboden aufgepfropft wurde, so sehr verteilt sich das Gerümpel im Hof.

Dabei haben sich Bauqualität und Optik über die Jahre verbessert. Die Häuser sind schöner geworden, wirken weniger improvisiert, sind als Komplettbausatz aus dem Süden geliefert und im August montiert worden, wenn das Meer eis- und das Land für ein paar Wochen schneefrei ist. Tuktoyaktuk ist kein Ort, der einen Schönheitspreis gewinnen wird. Und ehrlicherweise kommt es auch niemandem in den Sinn, ihn dafür zu nominieren.

Ein Schicksal, das Tuktoyaktuk mit den meisten anderen Siedlungen der Arktis teilt - Tribut an das Klima, an eine Gegend, die sich dem Menschen nicht anpassen mag. Knapp 965 Einwohner hat Tuktoyaktuk, eine Landepiste für Flugzeuge, ein kleines Terminal aus Blech, ein Hafenbecken mit Platz für ein paar Kutter, einen aufgegebenen Horchposten des US-Militärs, ein paar Büros der Öl-Explorationsfirmen, die im und am Eismeer ihr Glück suchen und zwischendrin fast aufgegeben hatten, ein paar Werkzeugschuppen mit Ersatzteilen für schweres Bohrgerät, dazu einen Polizeiposten und vier Gefängniszellen: eine der nördlichsten ganzjährig bewohnten Siedlungen Amerikas.

In der Sprache der Ureinwohner bedeutet "Tukto" Karibu. Seit Jahrhunderten siedeln Inuvialuit-Familien in der Gegend und jagen hier. Wann konkret der Ort gegründet wurde, weiß keiner so genau - nur dass er 1937 erstmals auf einer Landkarte auftauchte. Und dass die Heavy Metal-Band "Metallica" hier schon einmal ein Live-Konzert gegeben hat. Nicht, dass es in Tuk viele Fans gäbe, aber die ungewöhnliche Location war gut für die PR.

Dabei ist Tuktoyaktuk kein Dorf, an dem jemand zufällig vorbeikommt. Die nächste nennenswerte "Stadt" Inuvik, 3500 Einwohner stark und so etwas wie die Verwaltungsmetropole der Region, ist eine knappe halbe Flugstunde entfernt. Und die Distanz zwischen Vancouver und Tuk ist größer als die zwischen München und Casablanca.

Drei Straßen hat der Ort. Sie treffen an einer Stelle im 120-Grad-Winkel aufeinander. Sie alle sind Sackgassen und immer enden sie am Meer, dessen Wassertemperatur nie über vier, fünf Grad steigt. Von Mitte Juli bis Mitte September ist die Beaufort-See hier oben meist eisfrei, ist schiffbar, und nur der eine oder andere Eisblock in der Größe einer griechischen Ferieninsel treibt vorbei.

"Es ist dann schwierig, dort draußen zu navigieren", erzählt John Fraser, der seit 30 Jahren hier lebt, einst mit den Öl-Leuten gekommen und geblieben ist. "Es gibt draußen auf dem Wasser im Sommer Luftspiegelungen wie in der Wüste. Fata Morgana-Effekte, die dir Land oder andere Schiffe vorgaukeln. Du kannst kaum auf Sicht fahren, musst dich auf deine Instrumente, die Technik an Bord, auf Kompass, Radar und GPS-Satellitennavigation verlassen. Oder du bist hier geboren. Dann brauchst du all das nicht. Die Jungs aus Tuk fallen nicht auf die Spiegelungen herein. Wie sie das machen? Ich weiß es nicht. Es ist mir seit 30 Jahren ein Rätsel, und es wird mir eines bleiben."

Im Winter ist öfter mit unerwartetem Besuch in Tuk zu rechnen als im Sommer. Dann hat die Siedlung am nördlichen Ende Amerikas für einige Monate eine Straßenanbindung. Eine markierte Piste übers Eis, 194 Kilometer bis Inuvik immer parallel zum Verlauf des Mackenzie River.

Wenn der Schnee geschmolzen ist, zieht Laura Raymond ins Sommerquartier, in ihr altes Zelt hinterm Haus. Das Eismeer ist dort nur noch ein paar Meter vom Bett entfernt. Wenn Laura aus dem Zelt tritt, sieht sie, wo Amerika endet und weiß, dass nördlich von ihr wahrscheinlich niemand mehr ist. Laura Raymond ist bald 80, hatte Schwierigkeiten, sich ans "richtige" Haus zu gewöhnen und fühlt sich nirgendwo wohler als in ihrem Zelt , in dem sie aufgewachsen ist und den Großteil ihres Lebens verbracht hat: auf sechs Quadratmetern hinter Fellen, hinter blauen und weißen Planen auf einem Gestell aus gebogenen Metallstäben. Sie schläft dort. Sie kocht dort. Sie bekommt dort Besuch von den anderen Alten des Ortes, die ihre Zelte aufgegeben haben und sie doch vermissen. Sie sitzt dort, und manchmal singt sie die Lieder ihrer Vorfahren in einer Sprache, die von den Jungen längst nicht mehr alle verstehen und die jedem der Zugereisten fremd ist, in Inuvialuktun. Es ist viel geschehen in Lauras Leben.

Tuktoyaktuk hat sich verändert: erst der Siedlungsplatz von ein paar Familien, von nomadischen Jägern, für viele nur ein Sommerquartier, eine Walfangstation. Heute hat Tuk ein kleines Hotel mit Gaststube, wo es das teuerste Roastbeef-Sandwich der Welt gibt - behaupten zumindest die Einheimischen, und der Wirt dementiert es.

Gut 15 Dollar für ein dünnes Stück Fleisch mit dem Hauch einer Gurkenscheibe, ein paar Zwiebelschnitzern, einem Salatblatt, zweierlei Soßen und zwei Scheiben Toastbrot. Jede einzelne dieser Zutaten ist per Flieger angereist. Fisch ist billiger. Nicht viel, denn diejenigen aus Tuk, die ihn fangen und weiterverkaufen, müssen damit genügend verdienen, um sich das Roastbeef-Sandwich leisten zu können. Eine arktische Preisspirale. Wenn die alten Leute aus Tuk zusammensitzen, plaudern und Musik machen, dann kauen sie ihr Muktuk und ihr Mipku, beides Snacks aus dem Fleisch des Beluga-Wals. Nur die Ureinwohner dürfen ihn jagen - und müssen dabei streng ihre Quote der wenigen jährlich zum Abschuss frei gegebenen Tiere einhalten. Ein Mal am Tag, mit der Morgenmaschine aus Inuvik, einer betagten Twinotter-Propellermaschine, kommen neuerdings Fremde eingeschwebt: erste Touristen auf Kurzausflug.

Wenn Inuvialut-Reiseleiter Ray hinter seiner goldverspiegelten Sonnenbrille auf die Fremden wartet, ist er cooler als der coolste New Yorker. Sein raumgreifender Schnurrbart wirkt wie frisch gekämmt, die Wangen sehen aus wie vorgestern rasiert, und den Zündschlüssel seines Mini-Vans mit acht Sitzplätzen lässt er um den Finger rotieren wie anderswo die Beachboys das Starter-Zubehör ihres Porsche Cabrios. Ray war Fischer, bevor er ins Team der touristischen Beschäftigungsinitiative der Regierung eingetreten ist. Er macht seine Sache gut, fährt langsam, erklärt laut und deutlich, zeigt die kleine anglikanische Holzkirche mit dem Robbenfell an der Wand, den Kieselsteinstrand, das Roastbeef-Hotel, die Gestelle, wo der eingesalzene Lachs im Wind austrocknet.

Und am Ende des Ausflugs stellt er jedem der Fremden ein Diplom aus. Darin bescheinigt er ihnen, dass sie ihren großen Zeh in den arktischen Ozean getippt haben. Und dass sie cool sind. Er bescheinigt es auch denen, die sich zierten und beim Kleinbusstopp am Kieselstrand Schuhe und Strümpfe einfach anbehielten.

Und es interessiert ihn nicht sonderlich, dass die Urkundenausfüll-, Urkundenunterschreib-, Diplomverleih- und Händeschüttelzeremonie am Sperrgepäckschalter im kleinen Wellblechterminal von Tuktoyaktuk der Twinotter eine Abflugverspätung beschert.

Zeit ist in der Arktis nichts, was den Tagesablauf dominiert. Pünktlich war die Maschine schon beim Hinflug nicht. Sie ist es selten. Am Morgen war sie zu spät aus Paulatuk gekommen. Dort zogen ausgerechnet zur geplanten Startzeit Moschusochsen über die Piste. Und auch beim Zwischenstopp in Aklavik gab es Verspätung. Eine Nebelbank hatte sich exakt über den Flughafen gesenkt und schien sich dort recht wohl zu fühlen. Was macht da schon eine Viertelstunde Verspätung aus, weil Ray noch weltstädtische Touristendiplome unterzeichnen muss. (Der Standard/rondo/27/02/2004)