>>>Zur Ansichtssache: Topköche aus Österreich über Myhrvolds Buch

Foto: 2011 Modernist Cuisine, LLC.
Foto: 2011 Modernist Cuisine, LLC.

Die unglaublich aufwändige Fotografie ist eine der wesentlichen Ursachen für die viele Millionen Dollar teuren Produktionskosten des Werkes.

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Nathan Myhrvold, Chris Young, Maxime Bilet: "Modernist Cuisine: Die Revolution der Kochkunst", Taschen 2011, 2440 Seiten, € 410,20

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Nathan Myhrvold ist ein verspielter Millionär.

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Wenn er so vor einem steht, der Monster-Schuber aus Plexiglas mit seinen fünf überdimensioniert großen Buchbänden plus dem einen, ringgehefteten und auf abwaschbarem Spezialpapier gedruckten Rezeptheft, dann stellt sich schon fassungsloses, ungläubiges Staunen ein: So ein verrücktes, aus der Form gequollenes, übergewichtiges Ungetüm kommt also heraus, wenn ein superreicher studierter Mathematiker und Physiker, ehemaliger Mitarbeiter Stephen Hawkings und langjähriger Chief Technical Officer sowie Chief Strategist des Softwareriesen Microsoft, beschließt, das ultimative Kochbuch zu schreiben.

Nathan Myhrvold war freilich auch schon Sieger bei der Barbecue-Weltmeisterschaft in Memphis, Tennessee, zum klassischen Koch ließ er sich auch ausbilden. Und zwar lange bevor er beschloss, seine Zeit und einen kleinen Teil seines immensen Vermögens dafür zu nutzen, die Meister der Molekularküche von Ferran Adrià bis Grant Achatz in ihren Küchen zu besuchen, sich über Monate bei ihnen einzunisten, schlussendlich den Sous-Chef von Achatz - Maxime Bilet - zu engagieren, um die Techniken und Rezepte, die er da gelernt hatte, in einem Werk der Superlative zu verewigen.

2440 Seiten dick und mehr als 18 Kilo schwer

Nachdem es wohl keinen Verlag auf der Welt gibt, der sich die von Myhrvold gesteckten Standards auch nur ansatzweise leisten (oder gar vor seinen Shareholdern argumentieren) könnte, gab Myhrvold das Werk kurzerhand im Eigenverlag heraus. Die übersetzten Versionen (deutsch, französisch, ...), die dieser Tage auf den Markt kommen, erscheinen nicht zufällig bei Taschen: Der Verlag steht schließlich für wahnwitzige Buchprojekte.

Am besten nähert man sich so einem Monstrum über die schiere Macht der Zahlen: 2440 Seiten dick. Deutlich mehr als 18 Kilo schwer. Für die Produktion wurde ein eigenes Labor von 1600 Quadratmetern eingerichtet. 20 Mitarbeiter arbeiteten dreieinhalb Jahre an der Realisierung. Mehr als 1500 Rezepte werden abgehandelt. Myhrvold hüllt sich über die genauen Kosten in Schweigen, deutet aber an, dass die Produktion "signifikant mehr als eine Million Dollar, aber weniger als zehn Millionen" verschlungen habe. Im Buchhandel wird das Buch 410,20 Euro kosten.

Das ultimative Kochbuch also, oder, wie Ferran Adrià im Vorwort feststellt, "ein Werk, das unsere Vorstellungen von zeitgemäßer Küche und Gastronomie für immer verändern wird". Myhrvold stellt im Gespräch mit dem STANDARD klar, dass er die Bücher "absolut für alle geschrieben" habe, die regelmäßig in der Küche stehen, da schließe er "Hausfrauen und Hobbyköche" mit ein: "Mein Buch soll den Faktor Zufall beim Kochen ausschließen. Warum soll ich einen Braten aus dem Rohr holen, wenn mein Gefühl mir sagt, dass er am Punkt ist, wenn ein einfaches Bratthermometer das viel besser kann?" Das mag für einen Mathematiker wenig verwunderlich sein.

Kochen im Labor

Neben einem Thermometer braucht man freilich eine Vielzahl anderer Gerätschaften, die auch richtig heftig ins Geld gehen, wenn man den Rezepten tatsächlich folgen möchte. Ein ein Sous-Vide-Garer und ein kraftvoller Vakuumierer, mit dem die Lebensmittel vor der Garung in Plastikbeutel verpackt werden, sind aber laut Myhrvold die wichtigsten. Flüssigstickstoffflaschen, Gefriertrockner, Vakuumraum, Vakuumfilter, Zentrifugen, Refractometer, Thermomixer, Dehydratoren, Siphone und weitere Spezialteile sind nur etwa für die Hälfte der Rezepte vonnöten.

Es wäre aber verfehlt, zu glauben, dass diese Vielzahl von Gerätschaften, plus eine Armada chemischer Helferlein wie Alginat oder Transglutaminase, das Kochen etwa beschleunige. Myhrvolds Frühstücksei, erst in seine Bestandteile zerlegt, dann mit Eiweißkleber wieder zusammengesetzt und mit allerhand Würzschmäh in der eigenen Schale serviert, braucht schon Zeit in der Zubereitung - laut der sehr detaillierten Rezeptangaben exakt vier Stunden 20 Minuten. Zum Muttertag ganz okay, ansonsten vielleicht etwas gar zeitaufwändig.

Auch der am Titelblatt abgebildete Mushroom-Burger ist, wie man sich vorstellen kann, nicht ruck, zuck fertig, laut Rezept sind 30 Stunden zu veranschlagen) - dafür ist aber vom langsam geführten Germteiglaberl über den geräucherten Kopfsalat, die vakuumgepresste Tomate und die gefriergetrockneten, in Rindertalg gebratenen Maitake-Schwammerln bis zum Schmelzkäse aus gereiftem Emmentaler und dem selber faschierten Rind wirklich alles selbstgemacht. "Klar kann man auch in die nächste Burger-Bar gehen und da einen sehr anständigen Burger bekommen", sagt Myhrvold, "aber manchmal soll es eben etwas ganz besonderes sein."

Oper fürs Auge

Das gilt auch für die haarsträubend aufwändig gemachten Bilder. Manche, wie jenes der halb geschälten Orange, aus der das Pektin rieselt, sind großteils am Computer entstanden, andere, wie der vollständig aus seinem Panzer geschälte und rekonstituierte Hummer, lassen einen schlicht wegen der immensen Akribie und Mühe staunen, die es braucht, um das so perfekt hinzukriegen. Auch die Rezeptfotos, bei denen etwa ein am Knochen gepökeltes Schweinskarree in einer Mondlandschaft aus glosender Holzkohle lagert, bieten richtig große Oper fürs Auge. Wen es interessiert: Das Karree wurde "sous vide" gegart, hernach in flüssigem Stickstoff gebadet, mit Stärke bestäubt, in aufgeschlagener Methylcellulose gerollt und in faschierter Schwarte gewendet, bevor es für 30 Sekunden in der Friteuse landet. Am Foto sieht es durchaus noch wie Essen aus.

Das alles wirkt natürlich hochgradig dekadent und ist es auch. Aber eben gleichzeitig auch ein unglaublich gut aufbereiteter Haufen an Informationsschätzen, die nur darauf warten, von ambitionierten Profi- wie auch Hobbyköchen gehoben zu werden. Viele, viele Stunden gewinnbringender Beschäftigung mit dem neuen Spielzeug scheinen garantiert. Manche Weisheiten Myhrvolds haben echte Schockerqualität - etwa, wenn er zur Belüftung großer Weine empfiehlt, auf Dekanter und anderen Klimbim zu verzichten und stattdessen rät, Château Margaux und Konsorten einfach für eine Minute durch den Mixer zu jagen. "Der halbe Spaß ist der Gesichtsausdruck der Gäste", sagt Myhrvold mit schlauem Grinsen, "vor allem, weil der Wein danach tatsächlich besser schmeckt als in der dekantierten Variante." (Severin Corti/Der Standard/rondo/28/10/2011)