"Wenn du alle aufgegessen hast", lockte die Mutti, "dann kommt das Christkind zu dir."

Bildmontage: Druml/Friesenbichler; Kalender: Richard Sellmer Verlag

Gerhard Lang war quengelig. Besonders vor Weihnachten nervte der Pfarrerssohn seine Mutter immer wieder. Jeden Tag kurz nach dem Morgengrauen wollte der kleine Gerhard aus Maulbronn, nördlich von Pforzheim, schon Süßes. Mami Lang hatte, wie so viele liebende Mütter, eine Idee. Sie nahm kurzerhand einen Karton, Nadel und Faden und nähte 24 verschiedene Kekse, im schwäbischen "Wibele" genannt, auf die Schachtel. Nun durfte ihr Sohn ab dem 1. Dezember bis zum Heiligen Abend täglich von ihr selbst gebackenes Gebäck naschen, ohne ständig zu fragen. "Wenn du alle aufgegessen hast", lockte die Mutti, "dann kommt das Christkind zu dir."

Als erwachsener Kerl erinnerte sich Gerhard Lang an seine Kindertage und hatte nun selbst eine Idee. 1908 ließ er auf einem Papierbogen handgemalte Engelsbilder drucken. Mit der geschmiedeten Eisenschere der Eltern durften die Kleinen dann die Heiligen ausschneiden und auf ein mit 24 Feldern nummeriertes Extrablatt kleben. Zarte Engel mit Schlitten, niedliche Nussknacker, das hochheilige Christkind, eingerahmt von reich beladenen Weihnachtsbäumen.

Der Sonntag ist bunt

"Im Land des Christkinds" nannte Lang seine Kreation. Diese war nicht der erste Adventskalender, aber der erste gedruckte. Dabei ist sich die Historikerzunft, stets zahlensicher, uneins, wer wirklich der Urheber des Adventskalenders war. 1902 erschien in der Hamburger Evangelischen Buchhandlung eine Weihnachtsuhr, bei der Kinder auf dem Zifferblatt einen dunklen Metallzeiger jeden Tag um eine Ziffer weiterrückten. Kein richtiger Kalender, mäkeln die einen, aber zwei Jahre später legte das Neue Stuttgarter Tageblatt als Präsent für ihre Leser einen Adventskalender bei. Heimatforscher fanden heraus, dass ein Leipziger Verlag schon 1895 24 gedruckte weihnachtliche Bildchen anbot. Noch viel früher malten Mutter und Vater mit weißer Kreide einfach Striche an die Wohnungstür, die Sonntage waren bunt. Ihre Kinder durften dann Tag für Tag einen Tag wegwischen. Andere Familien hängten jeden Abend ein Bild mit einem religiösen Motiv an die Wand.

Vor allem in katholischen Klosterschulen stellten Nonnen am ersten Adventssonntag leere Krippen auf, in die jedes Kind täglich einen Strohhalm legen durfte, sodass das Christkind am Heiligen Abend weich gebettet war. 1920 dann erschien der erste Adventskalender mit Türchen zum Öffnen. Dahinter meist Bildchen von Maria, Josef und Jesus. Die badische Sankt Johannis Druckerei versteckte hinter den Fenstern biblische Verse.

Auf dem Schreibtisch einer kleinen Stube in der Stuttgarter Schmellbachstraße begann 1946 die Geschichte des Familienbetriebes Richard Sellmer. Das erste Motiv, "Die kleine Stadt", mit Kirchturm, Fachwerkhaus und Post, bastelte der Chef eigenhändig und stellte den Kalender-Karton gleich auf einer internationalen Messe in Frankfurt aus. Irgendwie gelangte der über den großen Teich. Als dann die Enkelkinder von US-Präsident Dwight D. Eisenhower mit dem klappbaren Sellmer-Adventskalender posierten, war der Unternehmer Sellmer begeistert. Er konnte sich weitere Werbegelder sparen. Noch heute arbeitet die schwäbische Firma ausschließlich an dem Kalender für nicht ganz einen Monat. 115 verschiedene sind es, jedes Jahr zeichnen Grafiker mehr als ein Dutzend neuer Motive. Religiöse Krippenszenen, verschneite Winterlandschaften, nostalgische Stadtansichten. "Mehrere Millionen" seien es, sagt Marketingchefin Annette Sellmer, die die Stuttgarter in alle Welt schickten. "Fachwerkhäuser, Schneelandschaften oder Nikoläuse laufen am besten", sagt Frank Sellmer, der heutige Inhaber. Bei den teureren Exemplaren handelt es sich um faltbare, dreidimensionale Kalender, deren Pappmotive aufwändig von Hand geklebt werden müssen. Inzwischen könnten sich die Schwaben durchaus Königlicher Hoflieferant nennen. Denn der Londoner Buckingham-Palast lässt sich für die blaublütige Vorweihnachtszeit aus dem deutschen Süden stets glänzende Bilderwelten-Türchen liefern.

Pralinen und Playboy-Häschen

Längst warten nicht nur Heilige, Himmelsboten und der Heiland hinter dem Türchen. Hunderte verschiedene Motive und Themen locken die Käufer. Pudel, Pralinen oder Playboy-Häschen genauso wie Schneeballschlacht, Spielzeugladen und Schloss Sanssouci. Nicht nur im Kinderzimmer hängen die Weihnachtsvorboten, auf Marktplätzen und an Rathauswänden ringen Gemeindepolitiker und Eventmanager um den Titel Wir haben den größten Adventskalender der Welt.

In der offiziell atheistischen DDR hieß der Adventskalender offiziell "vorweihnachtlicher Kalender". Meist ohne Engelchen und Engelshaar - oft mit verschneiten Wintermärkten und weißbedeckten Tannen. Doch zahlreiche kleine Verlage, wie im sächsischen Ebersbach oder im thüringischen Jena, druckten in kleiner Auflage bunte Bildchen mit Maria, Josef und dem Kind in der Krippe. Ganz im Sinne des sozialistischen Säkularismus lagen in den Schaufenstern der Bücherläden Blätter, auf denen Pioniere mit blauem Halstuch und blauem Käppi besinnlichen Weihnachten entgegensahen. Eher ein Ladenhüter.

Nicht nur die kleinen Türöffner freuen sich in der Adventszeit jeden Morgen auf den neuen Tag. Nach dem Aufstehen reißen auch die Erwachsenen auf der Suche nach der ersten Süßigkeit des Tages das Fensterchen auf. Das Harren auf das Christkind ist für viele eine große Pralinenschachtel geworden. Der Adventskalender, weiß Volkskundler Gunther Hirschfelder, "nimmt die Bescherung von Weihnachten ein bisschen vorweg". Zur Vorfreude auf den besinnlichen Moment unter der Tanne steckt jedoch keinesfalls nur Süßes hinter Tür und Tor. Jung und Alt holen 24 Tage lang nach Lust und Laune mittlerweile schmale Schnapsflaschen, erotische Unterwäsche oder kleine Devotionalien vom Lieblingsverein vor dem Frühstück aus dem Adventskalender. (Oliver Zelt/Der Standard/rondo/26/11/2010)