Tom Standage: "Der Mensch ist, was er isst. Wie unser Essen die Welt veränderte". EURO 20,50 / 280 Seiten. Artemis & Winkler Verlag, Mannheim 2010

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Alexander Kluy aß mit ihm zu Mittag und erfuhr, dass die Geschichte nur einen Treibstoff kennt: das Essen.

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Nicht Macht, nicht Liebe oder Eitelkeit sind es, die die Geschichte vorantreiben - sondern das Essen. Da ist sich Tom Standage sicher. Und darüber hat der englische Journalist nun ein anregendes Buch geschrieben. "Der Mensch ist, was er isst" hat er in München im Rahmen eines Menüs vorgestellt, das die Menschheitsgeschichte kulinarisch widerspiegeln sollte - aber schön der Reihe nach.

Wie hat das, was Menschen aßen, die Geschichte beeinflusst, fragt Standage. Seine Antwort: Die Menschheit veränderte die Pflanzen, die Pflanzen wiederum veränderten die Menschheit. Denn "im Lauf der Geschichte", schreibt er in seinem angenehm nüchternen, gut lesbaren Buch, "hat das Essen weit mehr bewirkt, als nur für Nahrung zu sorgen." Es fungierte als Katalysator des sozialen Wandels, der gesellschaftlichen Organisation, des geopolitischen Wettbewerbs, der industriellen Entwicklung, der militärischen Konflikte und der wirtschaftlichen Expansion, so Standage. Das antike Rom war mit China durch Gewürzhandelswege verbunden, auf denen sich später religiöse Lehren verbreiteten. Europas Gier nach Gewürzen trieb Kolumbus an, das arabische Handelsmonopol zu durchbrechen, indem er Asien auf einer anderen Route ansegelte - und Amerika entdeckte. Er brachte Schokolade und Kartoffeln nach Europa und exportierte Zuckerrohr in die Neue Welt, dessen Anbau den Sklavenhandel nach sich zog. Gewürze ließen die Portugiesen Afrika umsegeln und Handelsniederlassungen, Keimzelle von Kolonialismus und Imperialismus, in Indien gründen. Ernteausfälle entschieden nach 1820 die Debatte um die Zukunft des britischen Königreiches zugunsten der Industrialisierung, für die Kartoffeln und Zucker ebenso wichtig wurden wie die Dampfmaschine.

Jäger und Sammler

"Ich wollte", so Tom Standage, der als Mitglied der Urban Wine Company mitten in London eigenen Wein anbaut und dieser Tage sein Jahresquantum, sechs Flaschen, erhält, "festmachen, welche Nahrungsmittel den größten Unterschied machten - und wie sie dies bewerkstelligten." Während des Essens ist es durchaus faszinierend, mitzuverfolgen, wie Standage die Zeitalter der Geschichte durchmisst und diese gleichzeitig an aktuelle Diskussionen über Ernährung andockt. Etwa, wenn er im ersten Gang stochert, einem Karotten-Cranberry-Salat mit Walnüssen, dessen Inhaltstoffe samt und sonders für die Anfänge menschlicher Ernährung stehen - als die Menschen noch Jäger und Sammler waren.

Als Ackerbauern nach und nach die drei Hauptgetreidearten Weizen, Reis und Mais wie auch Gerste, Roggen, Hafer und Hirse domestizierten, waren dies genetische Variationen mit einem Ziel: mehr praktische Nahrung, weniger zählebige Pflanzen. Kaum eines der Nahrungsmittel, die wir essen, sei ein wirklich natürliches - nahezu alle, schreibt Standage, sind Ergebnis selektiver Züchtung: "Mais, Milchkühe und Masthühner, wie wir sie heute kennen, kommen in der Natur nicht vor." Auch nicht die Karotte.

Zu Ehren der holländischen Königsdynastie, des Hauses Oranien, wurde in den Niederlanden im 17. Jahrhundert aus einer gelben Mutation der eigentlich weißen oder violetten Karotte etwas Neues herausgemendelt: rotorange, knackig, leicht süß - und in der Wappenfarbe des Königs gehalten. Vor einigen Jahren bot eine britische Supermarktkette das lila Original an - ein gnadenloser Misserfolg, wie Standage amüsiert berichtet: Die violetten Karotten seien den Kunden zu künstlich erschienen.

Fusion von Alter und Neuer Welt

Das Hauptgericht, Tafelspitz mit gekochten Kartoffeln, symbolisiert den Übergang zu Ackerbau und Viehzucht. Und die Fusion von Alter und Neuer Welt. Was aber werden wir in Zukunft essen? "Ich denke", so Standage und fügt damit seinem Buch den fehlenden Ausblick hinzu, "in 100 Jahren werden wir künstlich erzeugtes Fleisch essen. Heute werden bereits menschliche Leberzellen in Labors gezüchtet. Wieso also nicht Fleisch?" Aussehen werde es wohl wie traditionelles Fleisch. Aufkommende Skepsis kontert Standage ganz konkret. "Wie hätten", fragt er, "die Römer auf unser Dessert, auf diesen grünen Wackelpudding, reagiert?" Und bekennt: "Ich bin Optimist. Ich glaube, dass Technologien Probleme lösen. Wir in Europa können die Nase rümpfen angesichts genetisch modifizierter Nahrung." Die Diskussion werde sich aber, wagt er eine Prognose, in den nächsten zehn Jahren ändern. Wenn sich in Afrika und Asien die Bodenqualität verschlechtert haben werde, brauche man Sorten, die weniger Wasser benötigen und in salzreicheren Böden wachsen würden.

"Überhaupt brauchen wir Pflanzen, die weniger Chemie aufnehmen", so Standage. "Wenn Regierungen das von Wissenschaftlern erforschen lassen und dann Saaten kostenlos ausgeben - und Unternehmen wie Monsanto außen vor bleiben -, würde dann dagegen protestiert werden? Vielleicht ja. Aber", sagt er, "dann stülpt man den Menschen in Afrika und Asien die eigenen Moralvorstellungen über." Über einem Kaffee gibt er zu bedenken: "Im Grund wird es aber keine Rolle spielen, was wir Europäer denken. Entscheidend wird sein, was die Afrikaner und Inder tun." Und was sie essen. (Alexander Kluy/Der Standard/rondo/13/03/2010)