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Das nächste große Ding kommt aus Salzburg: "Wikitude", ein mobiler Reiseführer, bringt die erweiterte Realität aufs Google Phone.

Im Bild: das T-Mobile G1 mit Google Phone.

Foto: AP/Jeff Chi

Er schnauft ein wenig, als er die 343 Stufen des Südturms im Wiener Stephansdom erklimmt. "Dabei spiele ich Eishockey", sagt Philipp Breuss zwischen zwei schnellen Atemzügen. Der Salzburger Softwareentwickler nimmt den Anstieg auf sich, um eine kleine Sensation zu präsentieren. Seine Sensation.

Auf 70 Meter Höhe zückt der 37-Jährige ein Google Phone, jenes neue Mobiltelefon, das auf dem Open-Source-Betriebssystem Android basiert - halt, das ist noch nicht die Sensation. Aber jetzt: Breuss schaltet das Handy in den Kameramodus, hält es auf der Aussichtsplattform vor ein Fenster. Im Display erscheinen nicht nur Gebäude, Himmel, Horizont, sondern auch gelbe Kästchen, an denen Namen flimmern: "Wienzeile (1,2 Meilen)" liest man dort, oder, das Gerät nach rechts gedreht, "Albertina (0,2 Meilen)". Tippt man auf dem Touchscreen auf eins der Objekte, poppt eine Sprechblase mit Daten zu den Gebäuden auf - basierend auf englischsprachigen Wikipedia-Artikeln - an der Implementierung der deutschen Artikel sitzt Breuss noch.

Voilà, das ist "Augmented Reality" (AR), also mit computergenerierten Daten überlagerte Wirklichkeit. In Filmen wie "Terminator" galt das noch als Sciencefiction: Wenn Arnold Schwarzenegger Menschen sah, ratterten neben denen wie auf einem Display Daten herunter, Größe, Gewicht, Alter, körperliche Besonderheiten. Mit Philipp Breuss' Applikation, dem mobilen Reiseführer, den er "Wikitude AR Travel Guide" nennt, ist die erweiterte Realität in der Gegenwart angekommen. Zumindest für jene Menschen, die ein G-Phone ihr Eigen nennen. In den USA und UK ist dessen Markteinführung gerade erfolgreich vonstatten gegangen. Trotz Wirtschaftskrise erwartet Hersteller HTC bis Ende 2008 einen Absatz von einer Million G-Phones. Nach Österreich kommt das Gerät Anfang 2008 auf den Markt. Bislang ist die Applikation Wikitude kostenlos downzuloaden.

Ein Hite für Reisende

Ob das so bleiben wird, Herr Breuss? "Wahrscheinlich schon. Im Moment suche ich nach Kooperationen mit Reisebuchverlagen wie etwa Lonely Planet, denen ließe sich die Applikation dann verkaufen." Die AR-Version von Wikitude mit seinen bislang 110.000 Artikeln jedenfalls ist ein Hit für Reisende und wohl die erste nützliche Anwendung von AR für den Endkonsumenten: keine schweren Bücher mehr im Urlaub mitschleppen, für jedes Land genügt das Handy.

Was in der Realität so einfach aussieht - G-Phone in Kameramodus stellen, Sehenswürdigkeiten und Berge erkennen lassen -, war ein Jahr lang harte Programmiererarbeit für Breuss. Angefangen hatte es damit, dass der studierte Informatiker und Historiker auf die Idee kam, Orte von Interesse für geschichtsinteressierte Menschen als Download bereitzustellen. So entstand das Projekt Wikitude, das eine Auswahl von Wikipedia-Artikeln ist. "Das war noch nicht die Wahnsinnsherausforderung", sagt Breuss und lächelt. Er, der acht Jahre lang als Softwareentwickler in den USA, Deutschland und Österreich gearbeitet hatte, wollte etwas Spektakuläres: "Bislang hatte ich nichts Eigenes fürs Web beigetragen, obwohl ich schon lange in der Branche bin." Als er sich überlegte, eine AR-Version von Wikitude zu entwickeln, wurde es knifflig.

Zum Glück hörte Breuss 2007 vom Google Developer Challenge, einem Programmiererwettbewerb. Er machte mit und gehörte prompt zu den Top-50-Finalisten, was seiner Applikation den entscheidenden Schub nach vorne brachte: Breuss reiste nach Kalifornien, im Gepäck sein Wikitude AR Travel, das er bislang nur auf einem Emulator getestet hatte - ein G-Phone besaß er da ja noch nicht.

Vor Ort halfen ihm dann zwei Google-Informatiker, die letzten Berechnungen für die Software vorzunehmen. Wenn Breuss von der Funktion der Applikation berichtet, schwirren Worte wie Sinus-, Kosinuskurven und Euler'sche Winkel durch den Raum. "Banal gesagt", erklärt Breuss dem Laien, "funktioniert es über den eingebauten Kompass des G-Phones gemeinsam mit dem Orientationsensor, dem Bewegungssensor und GPS." Auf Apples iPhones läuft Wikitude nicht, die aktuellen Modelle erfüllen die technischen Voraussetzungen nicht.

Breuss ist nun selbstständig, "Mobilizy" heißt sein Start-up, und natürlich entwickelt er Wikitude weiter: Als Nächstes soll das G-Phone Sternenbilder erkennen. (Mareike Müller/DER STANDARD/Rondo/4.12.2008)