Beim Frühstück im kleinen River Retreat von Cheruthuruthy, draußen im Freien, blickt man immer auch auf den Grund dieser Reise: den Fluss, der alle paar Kilometer anders genannt wird, bis er von einem um ihn bemühten Reiseveranstalter jenen Namen bekam, mit dem ihn die Dichter der Gegend seit langem besingen – River Nila. Unter blauem oder grauem Himmel, im gleißenden Licht oder im zähen Frühnebel fließt er langsam zwischen breiten, sandigen Bänken vorbei, Kühe trinken in ihm, Hunde nehmen Bäder, bisweilen taucht ein Mensch unter, dann wird wieder Wäsche gewaschen. Es ist heiß, obwohl die Sonne oft verborgen bleibt, die hohe Luftfeuchtigkeit lässt in den ersten Tagen schwer atmen.
Gopinath Parayil, ein junger Inder, der die Riva Nila Foundation 2003 ins Leben gerufen hat, zeigt auf den Sand, der illegal für den Hausbau abgebaut und auf Schiffen geschmuggelt wird. Selbst nach dem Monsun bleibt der Wasserpegel erschreckend niedrig, überhaupt führt der Fluss nicht mehr viel davon, schon wächst Gras aus dem Braun. Dass er nach dem Tod seines Vaters das rituelle Bad im Fluss genommen und bemerkt habe, dass der am Sterben sei, ist eine schöne Geschichte. Jedenfalls bringt sie das Anliegen von "The Blue Yonder" auf den Punkt: Wer diese Reise tut, soll den Fluss wiederzubeleben helfen, indem er die lokalen Gemeinschaften unterstützt, deren Leben kulturell und wirtschaftlich so eng mit ihm verknüpft ist. Ob es der sehnige Töpfer ist, der Tongefäße herstellt, die anders billiger und besser produziert werden, wobei er aber in Ermangelung von Alternativen bleibt – oder der Schmied, der mit seiner Familie in einem kleinen Haus abseits der Straße lebt. Sei es eine Gemeinschaft, die Tanztheatervorführungen anbietet oder keralesische Musikinstrumente vorführt – sie alle bekommen Geld von "The Blue Yonder", das ihnen sonst an allen Ecken und Enden fehlen würde und mit dem sie tun können, was sie für richtig halten. So wie sie bestimmen, was die Reisenden von und bei ihnen zu sehen bekommen.
Von einer dieser Gemeinschaften hörte Gopinath Parayil auch ein paar Wochen nach seinem Trauerbad ein Lied, in dem der Tod des Flusses beklagt wurde. Dieses Verhängnis aufzuhalten, ist seither seine Mission. Das ist seine Vision. Das ist auch sein Kampf gegen Windmühlen. Früher, sagt er, habe er die Kommunisten unterstützt. Jetzt wolle er nicht mehr auf die Regierung zählen, bis sich etwas ändere. Jetzt müsse dort angesetzt werden, wo wirklich etwas zu verändern sei: bei den Unterprivilegiertesten, den niedrigsten Kasten, die es in Indien seit der Unabhängigkeit offiziell ja nicht mehr gibt, bei den Indigenen, die aus den Urwäldern vertrieben wurden und sich nicht selten mit Alkohol und Betelnuss ruinieren.
Hammer und Sichel
Aber wer soll einen sterbenden Fluss sehen wollen? Kerala ist neben der ersten kommunistischen Partei, die jemals in freien Wahlen an die Macht kam, und neben den Che- und Marx-Transparenten an den Straßenrändern vor allem für seine Backwaters berühmt, die parallel zum Arabischen Meer fließen. Auch "The Blue Yonder" lässt ein paar Boote auf dem weit verzweigten Kanalsystem fahren. Nur werden diese von Schiffern gesteuert, die sehen sollen, dass man auch anders als mit Sandschmuggel Geld verdienen kann.
Und dass man auch anders bauen kann, traditionell, schön, aber ohne den Sand aus dem River Nila, will Arun Prabhakaran in Thiruvanaya zeigen, wo am Rande einer organischen Farm voller Gewürze ein Musterhaus errichtet wird. Ansonsten sind es aber andere Pfade, die angeboten werden, weniger begangene, unbekanntere, die gleichsam einen kritischen post-kolonialen Blick in den Tourismus einführen sollen. In der weitläufigen Schulanlage von Kalamandalam werden in offenen Gebäuden einheitlich bunt gekleidete Buben und Mädchen für das Kathakali-Theater ausgebildet. Der Lehrer oder die Lehrerin gibt mit einem Stock, der auf eine Holzplatte geschlagen wird, den Takt vor, die Schülerinnen und Schüler drehen ihre Augen und lassen ihre Gesichtsmuskeln spielen, dass einem der Mund offen bleibt.
Hinter dieser einmal eng mit dem Tempel verknüpften Ausdrucksform, für die der Nachwuchs jahrelang im Tanzen, Trommeln und Singen ausgebildet wird, steckt harte Disziplin: Erst wer die Jahre an einer Übungstrommel aus Holz übersteht, darf zum bespannten Instrument wechseln – wenn er seiner überhaupt für würdig befunden wird. Abends gibt es dann eine Darbietung. Die Theatergruppe kommt dafür nicht ins Hotel, sondern die Gäste fahren zur Vorstellung; in einem kleinen Dorf wird Essen auf Bananenblättern serviert, bevor das Theater beginnt.
Die Männern und Frauen in ihren bunten Gewändern, mit ihren Masken und Trommeln erzählen die großen Geschichten von Liebe und Leidenschaft, Tod und Trauer, während die Kinder auf dem Boden sitzen, mit großen Augen zusehen oder Hampelmänner aus Bananenblättern basteln. Arundhati Roy schreibt in ihrem Roman "Der Gott der kleinen Dinge": "Der Kathakali-Tänzer ist der schönste aller Männer. Weil sein Körper seine Seele ist. Sein einziges Instrument. Seitdem er drei Jahre alt war, wurde er rundherum abgehobelt und poliert, beschnitten und angeschirrt, um Geschichten erzählen zu können. Magie steckt in ihm, in diesem Mann mit der gemalten Maske und den wirbelnden Röcken." Jetzt führt der Tänzer den ehemaligen Kult als Kultur auf. Immerhin, heißt es, schämten sich nicht mehr alle Jungen ihrer Überlieferung. Arundhati Roy schreibt aber auch: "In seiner Verzweiflung wendet er sich an den Tourismus. Er begibt sich auf den Markt. Er wird zu Lokalkolorit."
Balkontüren schließen
In den Bergen des Nordostens, einer weiteren Etappe der Reise, liegt das Vythiri Resort. Hier ist es etwas kühler, aber noch immer warm, nicht mehr ganz so feucht, nur wer viel Glück hat, wird beim Trekking nicht von Blutegeln angezapft. Die Balkontüren sind zu schließen, immerhin hüpfen Affen von Baum zu Baum, Bergbäche rauschen so laut vorbei, dass die sonst üblichen nächtlichen Geräusche der Kleintiere nicht zu vernehmen sind.
In der Nähe liegt die Kooperative Uravu, in der Frauen Unmengen an Bambus zu eher einfallslosen Mitbringseln verarbeiten, um ein geregeltes Einkommen zu beziehen und unabhängiger zu sein. Vor fünfzig Jahren wurde der Bambus, der so schnell wächst, von der Regierung in großem Stil angepflanzt und zu einem Spottpreis an Großhändler verkauft – und im Nationalpark kippte die Biodiversität.
Dort wachsen riesige Termitenhügel aus dem Boden, in einem Jeep werden die Besucher durch den Park geführt, zwischen den Bäumen stehen gesprenkelte Rehe, in den Kronen klettern Affen, springen von Ast zu Ast, und mit etwas Glück bekommt man nicht nur den armen Elefanten zu sehen, der nahe am Eingang steht, damit jeder Tourist zumindest einen fotografieren kann.
Lieber als auf den Backwaters lässt "The Blue Yonder" eine Holzbarke über den Ponnani River fahren, vorbei an kleinen Siedlungen, aus denen Menschen an die Flussbänke kommen. Kinder winken, Jugendliche filmen mit Mobiltelefonen die Unbekannten, bunte Libellen fliegen vorbei, im Wasser landet ein Eisvogel – der Kingfisher ist der Patron eines Konzerns, der nicht nur Bier und Wasser anbietet, sondern auch eine Fluglinie betreibt.
Mit dem Eisvogel am Flugzeug geht es von Kerala zurück nach Mumbai, wo die Reise auch beginnt, in diese weitgedehnte Riesenstadt, über der ständig eine Smogglocke hängt. Kaum hält der Bus, scharen sich Menschen um die Reisenden, Kinder, die betteln, Junge und Alte, die etwas verkaufen wollen. Einen Fächer aus Pfauenfedern zum Beispiel. Eine Frau will wissen, wie viel der koste. "Fifty rupees", sagt der junge Mann, und das ist nicht einmal ein Euro. Die Reisende ist einverstanden, der junge Mann fordert auf einmal hundert Rupien. "Why?", fragt sie. Er lächelt: "Fifty rupees each side." (Clemens Berger/DER STANDARD/Rondo/28.11.2008)