Der erste Silvester nach der Wende: So sah Richard Avedon die Feiern in Berlin.

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Er beobachtete Feiernde auf einem Baugerüst, das in sich zusammenbrach. Er sah, wie Unruhestifter Feuerwerkskörper und Flaschen in die Menge warfen. "Ich hatte Angst", erzählte Richard Avedon später. "Ich spürte ein Klima von Gewalt und Bedrohung."

Die riesigen Fotos, die im letzten Raum im Erdgeschoß des Martin-Gropius-Baus in Berlin hängen, sind in der Silvesternacht des Jahres 1989 entstanden. Es war die erste deutsche Neujahrsparty nach dem Fall der Berliner Mauer. Richard Avedon war im Auftrag einer Zeitschrift in der Stadt - und schoss Fotos, die wie Zacken aus seinem homogenen OEuvre ragen.

Schwarz-weiß sind auch sie, Farbe misstraute Avedon ja sein Leben lang (der Fotograf starb 2004). Mit den wie in Stein gegossenen Momentaufnahmen, für die Avedon berühmt ist, haben diese Bilder aber wenig zu tun. Trotzdem zeigen sie, was dieser Fotograf so wunderbar konnte: hinter eine Fassade zu blicken.

Er fing Charaktere ein

Es sind flüchtige Augenblicke, grell und erschreckend ob der Bedrohung, die hier dokumentiert ist - und das ohne die Darstellung von sichtbarer Gewalt. Bilder, auf denen Gewalt gezeigt wird, sagte der 1923 in New York City geborene Avedon immer wieder, erzeugten nur Gegengewalt. Also vermied er sie bis auf wenige Ausnahmen (Vietnamkrieg) sein Leben lang. Avedon vertraute anderen Mitteln. Er war ein Menschenfotograf. Und das in der ganzen Tiefe des Wortes.

Fing er eine Person mit seiner Kamera ein, dann verlieh er ihr Tiefe. Oder anders gesagt: Er porträtierte einen Charakter. Weniger schmeichelnd als jenem Moment auf der Spur, in dem jemand etwas von sich preisgab. Dieser durchaus kaltschnäuzige Zug des Richard Avedon passte nicht allen Porträtierten. Henry Kissinger soll ihn vor der Fotositzung gebeten haben: "Seien Sie gnädig zu mir." Trotzdem galt es in der Kunst- und Kulturszene wie auch in der amerikanischen Oberschicht zum guten Ton, sich von Avedon porträtieren zu lassen. Seine Porträts von Marilyn Monroe, Charlie Chaplin oder Louis Armstrong sind mittlerweile Ikonen und beliebte Wohnzimmerdekorationen.

Ein durch und durch amerikanischer Fotograf ist Avedon, dieser Sohn russischer Emigranten, geblieben. Zu seinen eindrücklichsten Strecken (und zu seinen bekanntesten) gehört die in Berlin zu sehende "In the American West". Zwischen 1979 und 1984 reiste Avedon in insgesamt 189 Dörfer und Städte in 17 Bundesstaaten. In offener Landschaft stellte er Farmer und Bienenzüchter, Klapperschlangenenthäuter oder Minenarbeiter vor einen neutralen, weißen Hintergrund. Er rückte Menschen in die Mitte, die in der Öffentlichkeit eigentlich kein Gesicht hatten. "Es war Nachtzeit dort im Westen", beschrieb Avedon die Situation, in der die Aufnahmen entstanden. Im Land herrschte eine schwere Wirtschaftskrise, Reagan regierte.

Der Vorwurf lautete: Zynisch

Die Serie wurde mit offener Feindseligkeit aufgenommen, sie sei zynisch, ein Zeichen kulturellen Verfalls. Avedon hatte ins Schwarze getroffen, seine Bilder dokumentierten den Zustand eines Landes, über den mehrheitlich geschwiegen wurde. Seine Bilder waren aber mehr: Sie loteten Persönlichkeiten aus, die niemand kannte, die aber durch ihn ein Gesicht bekamen. Sie faszinieren heute noch.

Auch bei Avedons Modefotografien ist das der Fall. Durch ihn bekam Mode eine Seele, vielleicht weil er der Erste war, der für seine Aufnahmen raus aus dem Studio ging und die Mode auf jene Welt prallen ließ, für die sie schließlich geschaffen war. Die eindrücklichsten Bilder stammen aus den Nachkriegsjahren, seit 1946 fotografierte Avedon regelmäßig die Haute-Couture-Kollektionen für Harper's Bazaar und Vogue. Am bekanntesten wurden seine Aufnahmen des Models Dovima, auf denen sie im Cirque d'Hiver zwischen zwei angeketteten Elefanten posierte (1955).

"Ich mag Modefotos, die nicht wie Modefotos aussehen", sagte Avedon. Für die Nachkriegsjahre mag diese Aussage auf seine Bilder zugetroffen haben, aus heutiger Sicht erscheinen sie allerdings als Vorreiter jener Fotos, die nicht so sehr versuchen, Mode einzufangen, sondern die Haltung, die dahintersteckt. Dem Frauenbild des New Look entsprach er, indem er die Mannequins als moderne und immer perfekte Diven einfing. Avedons Sinn für Volumen und Bewegung half ihm dabei, die Roben ganz leicht und unbeschwert aussehen zu lassen. Mode inszenierte er wie Menschen: Auch ihre Oberfläche kann ganz schön tiefgründig sein. (Stephan Hilpold/Der Standard/rondo/31/10/2008)