Der "Tiroler Wildschütz", wie hier auf einem Gemälde von Georg Wachter aus 1839, ist ein bis heute faszinierender Topos.

Foto: Tiroler Landesmuseum

Im Osttiroler Villgratental, ganz hinten im Talschluss, wo im Sommer die Mountainbiker und im Winter die Skitourengeher starten, steht im Friedhof der Wallfahrtskirche Kalkstein ein bizarrer Grabstein aus jüngster Vergangenheit. Ein in weißen Marmor gehauenes Relief zeigt einen jungen Mann mit Elvis-Presley-Locken, und darunter spricht, in goldfarbenen Lettern, der Tote selbst zu uns: "Ich wurde am 8. September 1982 von zwei Jägern aus der Nachbarschaft kaltblütig und gezielt beschossen und vom 8. Schuss tödlich in den Hinterkopf getroffen."

Er war ein 30-jähriger einheimischer Holzfäller namens Pius Walder, und zu seinem Begräbnis waren mehr als tausend Menschen - auch aus dem benachbarten Südtirol - gekommen. Seine vier Brüder hatten den Sarg getragen, und als dieser in die Erde versenkt wurde, riefen zwei von ihnen, die Hand zum Schwur erhoben, die Worte: "Pius, das wird gerächt werden", nach einer anderen Version: "Pius, das werden sie büßen." Ein Drama wie aus einem Ganghofer-Roman, aber Realität in einem Fremdenverkehrsdorf im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts und seither Stoff für Stammtischdiskussionen, Zeitungsberichte und einen mehrteiligen Tatortkrimi von Felix Mitterer.

Alle fünf Walder-Buam waren klassische "Wilderer", beherrscht von der altmodischen Überzeugung, der Wald gehöre nicht einigen Privilegierten, sondern sei Gemeingut. Damit waren sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten und von der Jägerschaft offen bedroht worden. Im Besonderen vom Jäger Johann Schett, der nach dem Tod von Pius des Mordes angeklagt, dann aber von einem Richter, der selbst Jäger war, lediglich wegen Körperverletzung mit tödlichem Ausgang zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Nach nur eineinhalb Jahren kam er frei.

Wilderer, Wildschützen, Wilddiebe, Raubschützen: ein Thema, das immer schon romantisch verklärt und emotional aufgeladen war und offensichtlich immer noch aktuell ist. Die Tiroler Landesmuseen widmen sich jetzt den verwegenen Männern mit ihren rußgeschwärzten Gesichtern und abgesägten Flinten in einer farbenprächtigen, kontroversiellen, aber auch ironischen Ausstellung. Ein zum fahrenden Schießstand umgebauter Pkw zeigt die "fortschrittliche" Variante des Wilderns, und in regelmäßigen Intervallen schreckt ein Schuss die Ausstellungsbesucher aus ihren Betrachtungen.

Die Waffen sind es, die das Wilderervolk als mit unerschöpflicher Fantasie ausgestattet erweisen: Als Spazierstöcke oder Regenschirme getarnte Gewehre, zerlegbare Flinten, Pistolen mit Schalldämpfer, Selbstschussanlagen, umgebaute Kriegswaffen, aber auch Steinschleudern gehörten zum ansehnlichen Arsenal der nächtlichen Schützen. Und davon, dass nicht alle der "Waidgerechtigkeit" huldigten, zeugt eine stattliche Sammlung von Fangeisen, Schlagfallen und Fuchseisen, wobei der Interessierte erfährt, dass auch die Jäger, beispielsweise in Tirol, erst 1991 auf das Stellen von Fangeisen verzichteten.

Den wissenschaftlichen Überbau liefert im Katalog der Ausstellung der unverzichtbare Wildererspezialist, der Kulturforscher Roland Girtler, der den "Rebellen der Berge" einen Gutteil seines Lebenswerks gewidmet und in St. Pankraz in Oberösterreich das einzige Wilderermuseum Europas eingerichtet hat.

Girtler kennt die tausendjährige Geschichte der Wilderer als einen Kampf gegen die Vorrechte der Adeligen, die den Bauern verboten zu jagen und mit dem Überhandnehmen des Wildbestands die bäuerlichen Felder bedrohten. Sich dem Verbot zu widersetzen wurde streng bestraft, noch im 17. Jahrhundert mit der Verbannung auf venezianische Galeeren. So wurden die verwegenen Burschen zu Sozialrebellen, zu "Helden der kleinen Leute", auch deshalb, weil sie nicht, wie die adeligen Jagdherren, das Wild in riesigen Treibjagden um der Trophäen willen erlegten, sondern einzelne Tiere zur Nahrungsbeschaffung schossen. Sie gehörten, wie Girtler sagt, "in Zeiten der Not zur Kultur der Armut im Gebirge", zuletzt noch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg.

Das alles mehrte den Nimbus der Wilderer, denen gelegentlich magische Kräfte zugesprochen wurden und die in Bildern, Erzählungen und Liedern gefeiert wurden, wie der legendäre bayrische Wildschütz Georg Jennerwein, erschossen 1877 von einem Jäger: "Ein stolzer Schütz in seinen schönsten Jahren, er wurde weggeputzt von dieser Erd."

Nur wenige weibliche Wilderer sind bekannt, eine von ihnen war Elisabeth Lackner, genannt die "Floitenschlagstaude", die Anfang des 20. Jahrhunderts im Zillertal nach dem Tod ihres Mannes neun Kinder zu ernähren hatte.

Eine neue Aufgabe fanden manche Wildschützen im 18. und 19. Jahrhundert mit der wachsenden Bedeutung des Bergsteigens. Noch Julius Kugy, der Erschließer der Julischen Alpen, gedenkt in seinen 1918 verfassten Erinnerungen der "vor Jagdlust brennenden Wilderer der Trenta", die ihm als Führer treue Dienste geleistet hatten.

Längst hat das illegale Töten von Wild eine neue globale Dimension erlangt, wie auch die Innsbrucker Ausstellung mit erschreckenden Bildern belegt. Trotz aller Schutzmaßnahmen geht die Jagd auf Elefanten, Nashörner oder Menschenaffen weiter. Geschützte Großkatzen werden ihrer Felle wegen erlegt, den Wilddieben, die über schwere Waffen verfügen, winken stattliche Gewinne, an die der Ost- tiroler Holzfäller Pius Walder nie gedacht hätte. Dessen Bruder führt immer noch einen starrsinnigen, aussichtslosen Kampf gegen die Justiz, unterstützt durch anonyme Geldspender, die nach wie vor von der Romantik des Wilderns fasziniert sind. (Horst Christoph/DER STANDARD/rondo/18.9.2008)