Überraschender Nachwuchs, stabiler Star-Anker, fahles Licht: Hakim Taleb und Isabelle Huppert

Foto: Filmladen
Michael Hanekes neuer Spielfilm "Wolfzeit" erkundet menschliche Verhaltensweisen im Gefolge einer Katastrophe. Der österreichische Regisseur entwirft ein kalkuliertes Experiment von bestechender visueller Qualität.


Wien – Wenn eine Familie auf eine andere trifft, dann muss das nicht zwangsläufig böse enden. Wenn rund um die kleine Behausung, in der dies geschieht, allerdings gerade die Welt aus den Fugen gerät, dann wird ein Familienoberhaupt unter Umständen zum aggressiven Verteidiger der Seinen. Ist eine Waffe zur Hand, kann es Tote geben.

Wolfzeit, der mit diesem buchstäblichen Knalleffekt beginnt, erzählt jedoch in der Folge keine Geschichte von Rache und individueller Leiderfahrung. Das Geschehen erscheint in Michael Hanekes jüngster Kinofilm vielmehr eingebettet in eine Art von sozialem Experiment. Das, was die Menschen dazu gebracht hat, ihre Wohnorte zu verlassen, bleibt an den Rändern des Films. Es geht um die Auswirkungen des Ereignisses.

Dieses bringt nicht nur einen Mangel an existenziellen Gütern mit sich, sondern hat auch Verhaltens- und Organisationsweisen nachhaltig erschüttert, die hier erst (wieder)gefunden werden müssen und fehlen, schon wenn nur ein menschliches Wesen auf ein anderes trifft.

Die dezimierte Familie packt die verbliebenen Habseligkeiten also auf ein Fahrrad. Die Mutter (Isabelle Huppert) und ihre beiden Kinder sind zunächst auf sich allein gestellt. Schließlich stößt man auf eine Gruppe, die sich bereits in einem verlassenen kleinen Frachtenbahnhof einquartiert hat, um dort auf einen Zug zu warten, der angeblich kommen soll. Man erprobt Formen des Zusammenlebens, im Rückgriff auf ein Repertoire an Möglichkeiten – der selbst ernannte Kapo setzt auf Rationalisierung von Gütern und Abläufen, und lässt sich seinen Dienst an der Gemeinschaft durch Tauschgeschäfte materieller oder sexueller Natur abgelten.

Lichtregie

Dass Film auf Lichtbildern basiert, daran wird man in Wolfzeit so nachdrücklich erinnert wie im Kino schon lange nicht mehr. Mit perfekter Illusionierungstechnik – der enorme technische Aufwand zur kunstvollen Verdunkelung bleibt unsichtbar – entwirft Haneke undurchdringliche, nachtschwarze Dunkelheit unter freiem Himmel, spielt mit dem kargen Licht eines Strohfeuerscheins und lässt seine Figuren im diesigen Morgendämmerlicht nahezu mit der sie umgebenden Landschaft verschmelzen.

Während sich etwa vorne im Bild eine trauernde Familie am frischen Grab eines Kleinkinds versammelt, wird der Blick kaum merklich vom dramatischen Geschehen nach hinten abgelenkt: Flackernde Lichtpunkte künden dort vom Herannahen weiterer versprengter Flüchtlinge. Ein Panorama, das die Geschichte ganz diskret in eine weitere, neue Richtung treibt.

Die Weite, die offenen Räume tun der Erzählung gut. Wenn sie mitunter ins Thesenhafte, Theatralische ragt, dann scheint dies fast immer mit Innenräumen verknüpft – beinahe so, als förderten die baulichen Reste der Zivilisation, die hier in Frage steht, eine improvisierte Bühnensituation: für Protagonisten wie Patrice Chéreaus intellektuellen Freigeist, der mit eher armseligen Gesten gegen den Hüter des "Gesetzes" opponiert.

Während also die etablierten Stars, die hier ohnehin eingebunden in ein weitläufiges Ensemble agieren, nicht immer überzeugen, überraschen vor allem die Nachwuchsdarsteller: Hakim Taleb als misstrauischer Einzelgänger, Lucas Biscombe, der stumm seine einsamen Schlüsse aus dem Geschehen zieht und auch Anais Demoustier als trotziger Teenager. Sie fungieren hier nicht zuletzt als Verheißung darauf, dass das Leben auch nach der Katastrophe weiter geht. (DER STANDARD, Printausgabe, 22.1.2004)