Einstürzende Neubauten: "Perpetuum Mobile" (Mute 2004)

Foto: Neubauten.org
Seit ihrer Tournee zum 20-jährigen Bestehen im Jahr 2000 haben Einstürzende Neubauten keine Schaffenspause eingelegt: so veröffentlichten sie einen Soundtrack zu Hubertus Siegerts Film Berlin Babylon (2001) , der rund um die "Erdachse" zur "Befindlichkeit des Landes" angelegt ist, den dritten Teil der Trilogie- und Raritäten Kompilation, Strategien gegen Architekturen (ebenfalls 2001) sowie die live-DoppelCD zur "Geburtstagstournee" 9-15-2000 Brussels (2002) .

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Gleichzeitig starteten sie 2002 auch mit einem experimentellen globalen Projekt: dem interaktiven Komponieren um der Freiheit (von Labels) willen. Fans durften spenden, und Einstürzende Neubauten finanzierten damit Instrumente und ein Studio samt Webcams. Einmal die Woche präsentierte die Band ihre "work in progress" via zwei-stündlichem live Internetauftritt. Die Unterstützenden ihrerseits konnten Kommentare, Vorschläge und Wünsche abgeben. Als Resultat dieser Interaktivität, der "Phase eins", erschien 2003 das Supporters' Album #1, erhältlich nur für SubskribentInnen.

"Ich gehe jetzt"

Dies führt uns geradewegs zum neuen Album Perpetuum Mobile. Seit über 20 Jahren testen die Neubauten bei ihren Auftritten ihre "work in progress" mit "Rampen", die als voll ausgegorene Songs dann gewöhnlich auf dem nächsten Album erscheinen. Das interaktive Projekt hat diese Vorgangsweise nun durch die Hilfe von neuen Technologien erweitert. In diesem Sinne ist das Supporters' Album #1 dasjenige Moment, womit Perpetuum Mobile in die Umlaufbahn geschickt wird. Denn die fünf Songs, die von ihrem Vorgänger übernommen wurden, machen die Architektur des neuen Werkes aus. Endet die eine mit ihrem verführenden "Ich gehe jetzt" (black version), so beginnt die Offizielle mit dem weißen Gegenstück.

Versucht man, die Gemeinsamkeiten in den Werken der Neubauten herauszufiltern, findet man als Grundlage die Besonderheit der verwendeten Materialien. Und deren "metaphorischer Inhalt", wie Blixa Bargeld, Kopf der Band, gerne hinzufügt. Einmal mehr zeigen sie ihre Fähigkeit, auch die banalsten Objekte zum Singen zu bringen, in "Ich gehe jetzt", dem ersten Lied: zahlreiche horizontal gelagerte Plastik-Abflussrohre; Unruh, Moser und Arbeit mit einer Luftkompressorpistole als rhythmische Grundlage des Songs. Eine Art perkussiver Rahmen ohne physikalischen Kontakt. Und das Lied fliegt vollkommen davon, wenn die Augen den Ohren folgen.

Dank eines live-Mitschnitts (IE) einer frühen Version merkt man einmal mehr, wie wichtig der visuelle Teil ihrer Arbeit ist; vielleicht steigerte gerade die Überwachung ihres Schaffens das Theatralische der Band noch mehr. Die Ouvertüre ist aber gleichzeitig auch schon der Höhepunkt des Albums. Durch die Thematik: Luft, Wind, Bewegung, Strömung sowie die Form: Nuance, Entfernung und der Hang zum Detail. Kein Gipfelsturm, keine Talfahrt - sondern Innehalten und Durchatmen.

Überflug

Eine Konstante des Albums: einerseits Distanz, andererseits auch direktere sowie autobiographischere Texte als gewöhnlich ("Selbstportrait mit Kater", Dead Friends,...). Die immer wiederkehrende Entfernung findet sich auch auf musikalischem Level bei "Perpetuum Mobile". Ein 14 Minuten Stück als gemächlicher Flug über die Ströme der Menschen und ihr Geschwätz, woraus sich nichts wirklich erhebt, außer ein kurzes imaginäres Gespräch beim Einchecken am Flughafen.

Eine weitere Besonderheit des Albums liegt im Gebrauch von nicht selbstgebauten Instrumenten in fast allen Liedern. B. Bargeld spielt Hammond Orgel (1/2/9), Klavichord (1/10), Fender Rhodes Piano (2/3/5/9/10/11), Klavier (9/10), und erzeugt dadurch nicht selten ein liederliches déjà-vu. "Boreas" und "Ein Seltener Vogel" verlängern Bargelds eigene vokale Arbeitsexperimente mittels Voice-Loops als strukturelles Element, das schon bei "Pelikanol" (Silence is Sexy 2 CD-Edition) verwendet wurde und sich hier nicht ganz so mechanisch wieder findet. Das zentrale und instrumentale "Ozean und Brandung" ist das einzige Stück ohne vorgefertigter Struktur. Es lässt auch erahnen, wie ein weniger übervorsichtiges Experiment mit Luft geklungen haben könnte.

Zeit

Denn was vom neuen Album schlussendlich überbleibt, ist abgesehen von einigen überzeugenden Stücken ein Gefühl von Unvollständigkeit. Möglicherweise sind so manche Geistesblitze einer überbeanspruchten Struktur und einer sterilen Selbstreferenz zum Opfer gefallen. Und dieser "Wille zur Kontrolle" kann zu unnötigen Songs führen. Wie auch immer. Blixa Bargeld meinte über den interaktiven Schaffensprozess der Band, dass "wir drei Viertel dieser beiden Alben in nur einem Jahr gemacht haben, während Neubauten gewöhnlich viel mehr Zeit für nur eines benötigen". So kann man sich fragen, ob Zeit auch so zu komprimieren ist wie Luft. (cra+)