Die Verhaltensökologie geht davon aus, dass sich nicht nur körperliche Eigenschaften, sondern auch Verhaltensweisen dann durchsetzen, wenn sie für das Tier, das dieses Verhalten ausführt, von Vorteil sind. Und Vorteil wiederum übersetzt sich in der Biologie in Fortpflanzungserfolg. Da auch Verhaltensweisen genetisch kodiert sind, stirbt Verhalten, das nicht zu großer Nachkommenschaft - also zu zahlreichen Trägern ebendieser Gene - führt, früher oder später aus. In diesem Sinne trifft jedes Tier im Lauf seines Lebens unbewusste, aber folgenreiche Entscheidungen, etwa wann es sich fortpflanzt oder wie viel Energie es in die Aufzucht seiner Jungen investiert.

Besonders wichtig sind diese Entscheidungen bei Tieren, deren Wachstum prinzipiell unbegrenzt ist, wie das bei den meisten Fischen, Reptilien und Wirbellosen der Fall ist. Diese wachsen nämlich - anders als Säuger oder Vögel - nach der Geschlechtsreife noch weiter. Dadurch sinkt die Gefahr, einem Räuber zum Opfer zu fallen, und auch die Fruchtbarkeit steigt. Während einer Fortpflanzungsperiode allerdings müssen sie das Wachstum vorübergehend einstellen, weil alle Energie in den Nachwuchs beziehungsweise dessen Versorgung wandert.

Natürlich dient aber auch das eigene Wachstum letztendlich der möglichst zahlreichen Reproduktion. In welchen Aspekt man zu welcher Zeit am besten investieren sollte, um den maximalen Fortpflanzungserfolg zu erzielen, hängt von den jeweils herrschenden Umweltbedingungen ab. Diesem Spannungsfeld zwischen Wachstum und Vermehrung bei Fischen widmet sich Barbara Taborsky vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung in Wien anhand von Buntbarschen (Cichliden).

Buntbarsche kommen unter anderem in den großen Seen Afrikas vor, wo die meisten ihrer zahlreichen Arten eine einzigartige Brutpflege betreiben, indem (gewöhnlich) die Mutter die Eier beziehungsweise Jungfische bis zur Unabhängigkeit im Maul trägt. Der richtige Zeitpunkt für diese Unabhängigkeit ist wieder etwas, das stark von den Bedingungen außerhalb der elterlichen Mundhöhle bestimmt wird. Manche dieser Bedingungen und die Reaktion der Fische darauf untersuchten Taborsky und ihre Mitarbeiter im Rahmen eines vom Wissenschaftsfonds geförderten Projektes.

Die meisten potenziellen Jungfischräuber sind buchstäblich dadurch beschränkt, wie weit sie das Maul aufreißen können, sodass schon geringes Größenwachstum der Jungen dazu führt, dass sie nicht mehr für alles und jeden eine Beute darstellen. Tatsächlich fanden Taborsky und ihre Gruppe, dass Weibchen, die häufig mit einem Jungfischräuber konfrontiert wurden, ihre Brutzeit um 20 Prozent erhöhten. Das ist viel, wenn man bedenkt, dass der nächste Fortpflanzungszyklus erst um diese Zeit später beginnen kann. Die Investition scheint sich jedoch auszuzahlen, denn die Jungfische werden in dieser Zeit nicht nur größer, sondern können danach auch schneller schwimmen. Beides erhöht ihre Überlebenschancen.

Dasselbe Ziel scheinen jene Buntbarsch-Arten zu verfolgen, die ihre Jungen im Maul zusätzlich noch eine Zeit lang füttern. Auch hier werden die Jungfische größer, schwerer und mit besserer "Beschleunigung" in die Unabhängigkeit entlassen. Die mütterliche Mundhöhle ist ein so sicherer Platz, dass die Männchen der meisten Buntbarsch-Arten keinen Hang zur Beteiligung an der Jungenaufzucht entwickeln mussten, um sich erfolgreich fortzupflanzen. Bei einigen monogamen Maulbrütern jedoch übergeben die Mütter die Jungen in der Mitte der Brutzeit an ihre Partner. Wie Taborsky beobachten konnte, tobt auch hier der Kampf der Geschlechter: Die Weibchen signalisieren bis zu vier Tage lang, dass sie die Jungen jetzt gerne übergeben würden, ehe die Väter sie auch wirklich übernehmen. Waren zusätzliche Weibchen als potenzielle Paarungspartner anwesend, ließen sie sich sogar noch zwei Tage länger bitten. Fischmütter, die ohne Männchen auskommen mussten, erhöhten zwar ihre Brutzeit und produzierten ebenso viele Junge wie Elternpaare, aber die Jungen waren eindeutig kleiner und weniger entwickelt, was geringere Überlebenschancen bedeutet. Das Engagement der Männchen ist offenbar überlebenswichtig.

Gleichzeitig untersuchte Taborsky, inwieweit die Bedingungen während des Heranwachsens den Fortpflanzungszeitplan der Fische mitbestimmen. Wie erwartet, investierten die Fische, die viel zu fressen bekamen, lange Zeit in ihr eigenes Wachstum und erst dann in die Fortpflanzung, wogegen Tiere, die mit wenig Futter aufwuchsen, so rasch wie möglich Nachwuchs produzierten. Bemerkenswert war, dass die Weibchen, die nach einer kargen Jugend auf ein hohes Nahrungsangebot umgestellt wurden, ihre prinzipielle Strategie nicht mehr änderten: Zwar legten sie auch an Gewicht zu, steckten aber den größten Teil der zusätzlichen Energie in eine höhere Fortpflanzungsrate.

Erstaunliches fanden Taborsky und ihre Kollegen am International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) in Laxenburg: Wenn die Gefahr, als kleiner Fisch gefressen zu werden, hoch ist, ist zu erwarten, dass die Fische erst dann mit der Fortpflanzung beginnen, wenn sie eine Mindestgröße haben, die ihnen relative Sicherheit verspricht. Und unter bestimmten Umständen reichen schon geringe Unterschiede im Habitat aus, um noch einen zweiten Fischtypus entstehen zu lassen, der auf die gegenteilige Strategie setzt, nämlich sich so früh wie möglich fortzupflanzen. Die beiden Typen könnten dann in derselben Population nebeneinander existieren, ohne sich zu vermischen, was eine bisher unbeachtete Möglichkeit sein könnte, wie sich neue Arten bilden. (Susanne Strnadl/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31. 1./1. 2. 2004)