Klaus Poier

Die gegenwärtige Krise des politischen Systems Österreichs macht deutlich, wie dringend eine Debatte über Wahlrechtsfragen wäre. Robert Menasse griff vor kurzem im STANDARD dankenswerter Weise meinen schon vor einem Jahr gemachten Vorschlag auf, ein minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht einzuführen.

Nach diesem Modell erhält die Partei mit der relativen Stimmenmehrheit die Hälfte der Mandate plus eins, die restlichen Mandate werden verhältnismäßig auf alle anderen Parteien mit mehr als 4 Prozent der Stimmen aufgeteilt. Umgelegt auf das Ergebnis vom 3. Oktober 99 bedeutet das: SPÖ 92 (65), FPÖ 40 (52), ÖVP 40 (52), Grüne 11 (14).

Der Vorteil dieses Wahlsystems ist, dass es sowohl zu einer regierungsfähigen Mehrheit im Parlament führt, als auch die politische Repräsentation kleinerer Parteien gewährleistet und zudem den Prozess der Regierungsbildung wesentlich beschleunigt und vereinfacht.

In dieser Hinsicht ist es aber auch herkömmlichen Mehrheitswahlsystemen wie etwa dem englischen Modell überlegen. Denn bei einem minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrecht kann es weder zu einem "hung parliament" kommen, einer Situation, in der keine Partei eine absolute Mehrheit im Parlament besitzt (in England zuletzt 1974), noch zu dem Kuriosum, dass eine Partei mit weniger Stimmen eine Mehrheit an Mandaten erringt.

Freilich ist beim Modell eines minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts die größte Partei überdurchschnittlich repräsentiert. Der Vorwurf, dieses Modell könnte zu extremen Verzerrungen führen, wenn es nur viele kleine oder mittlere Parteien gibt, geht jedoch ins Leere, da solche Situationen natürlich bei allen Mehrheitswahlsystemen, ja sogar bei Verhältniswahlsystemen mit Sperrklausel eintreten könnten (so kann sogar beim gegenwärtigen österreichischen Wahlsystem eine Partei mit 4 Prozent an Stimmen alle Mandate bekommen, wenn alle anderen Parteien je weniger als 4 Prozent der Stimmen haben).

Trotzdem die Vorzüge dieses Modells also evident sind, scheint die Realisierbarkeit des Modells bisher allerdings äußerst gering. Wenn Robert Menasse von der SPÖ eine diesbezügliche Reforminitiative erwartet, erwartet er dies von einer Partei, die - von wenigen Ausnahmen abgesehen - stets gegen ein Mehrheitswahlrecht eintrat. Dies hatte sicherlich ideologische und historische Ursachen - gilt doch das Verhältniswahlrecht als eine der großen sozialdemokratischen Errungenschaften am Beginn der Ersten Republik -, war aber immer auch vor dem Hintergrund der Befürchtung der SPÖ zu sehen, sie würde bei einem Mehrheitswahlrecht (englischer Prägung) nur in den Städten gewinnen, alle Wahlkreise ländlicher Prägung jedoch und damit auch insgesamt verlieren.

Ein minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht müsste deshalb für die SPÖ eigentlich durchaus attraktiv sein. Als stimmenstärkste Partei hätte sie nach der Wahl vom 3. Oktober eine Alleinregierung - mit oder ohne Experten - bilden können. Österreich hätte sich viele Wochen der Ungewissheit und eine unsichere Zukunft mit einer in vieler Hinsicht problematischen Koalition erspart. Aber auch aus demokratiepolitischen Gesichtspunkten wäre es ein Zugewinn gewesen: Die Wähler hätten entschieden, wer das Land führen soll, und nicht die Parteien oder der Bundespräsident.

Aber auch für Freiheitliche und ÖVP müsste das Modell seinen Reiz haben: Beide Parteien trennten bei der letzten Wahl gerade 6 Prozent vom ersten Platz - eine gute Ausgangsposition, um ihn beim nächsten Wahlgang auch wirklich zu erreichen.

Die letzten Wochen und Monate haben jedenfalls gezeigt, dass das bisherige politische System Österreichs an die Grenzen seiner Effektivität und Effizienz gestoßen ist. Intensive Überlegungen der Reform und Innovation sind dringend erforderlich - ohne sich dabei vom müden Lächeln der "Pragmatiker" irritieren zu lassen. Das Modell eines minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts könnte ein mutiger und zielführender Reformschritt sein.

Klaus Poier ist Universitätsassistent am Institut für öffentliches Recht, Politologie und Verwaltungslehre in Graz.