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Sergej Glasjew

Foto: Reuters/Karpukhin
Standard: Russland verzeichnete 2003 ein Wirtschaftswachstum von rund sieben Prozent und ist im Westen als Partner geschätzt. Was also ist an Präsident Wladimir Putins Politik auszusetzen, und warum treten Sie gegen ihn an? Glasjew: Ich trete nicht so sehr gegen ihn an, sondern für eine Änderung der Wirtschaftspolitik. Denn wir verpassen derzeit eine Menge Chancen. Das gegenwärtige Wachstum beruht hauptsächlich auf den hohen Energiepreisen auf dem Weltmarkt. Gleichzeitig geht die Produktion im Hightech-Sektor und in anderen Bereichen zurück. Als Experte für langfristiges Wirtschaftswachstum sehe ich nur ein sehr schmales Fenster der Gelegenheit, von dem auf Rohstoffexport basierenden Wachstum zu einem nachhaltigen Wachstum zu kommen, das auf geistigem, wissenschaftlichem, technologischem Potenzial aufbaut.

Standard: Was muss dazu geschehen? Glasjew: Die Regierung betreibt weiterhin eine verantwortungslose Politik gegenüber der Bevölkerung. Kein einziges der Sozialgesetze funktioniert. Wir haben einen Budgetüberschuss und gleichzeitig zu wenig Geld für Gesundheitswesen, Kultur, Wissenschaft und Technologie. Der Kern meines Programmes ist die Kombination von sozialer Gerechtigkeit und Wirtschaftswachstum auf Basis des intellektuellen, wissenschaftlichen und technologischen Potenzials. Derzeit ist es wegen der hohen Zinsen praktisch unmöglich, ein Unternehmen zu gründen, und wegen der totalen Marktmonopolisierung sehr schwierig, profitable Gesellschaften zu führen. Durch Kreativität kann man kaum reich werden, wohl aber durch Diebstahl von Staatseigentum. Das Hauptproblem der russischen Wirtschaft ist, dass es keine Motivation für schöpferische Aktivitäten gibt.

Standard: Das klingt nicht wie das Programm einer Linkspartei, sondern eher liberal. Glasjew: Unsere Partei vereint das Prinzip des Sozialstaates mit jenem der persönlichen Initiative und Kreativität - eine Art moderner russischer Version der Sozialdemokratie.

Standard: Es wurde vermutet, dass "Rodina" mit Unterstützung des Kreml gegründet wurde, um die anderen Oppositionsparteien zu schwächen. Glasjew: Das ist die Version von KP-Chef Gennadi Sjuganow. Seit zwei Jahren versuchte ich Sjuganow zu überzeugen, dass wir eine Koalition der Linksparteien und anderer Kräfte wie der Gewerkschaften brauchen, um die nationalen Interessen zu schützen und eine gerechtere Politik zu machen. Hätte Sjuganow zugestimmt, dann hätten wir jetzt die Mehrheit. Aber die KP ging allein - und verlor.

Standard: Wie beurteilen Sie Putins prowestliche Außenpolitik? Sehen Sie Russlands Platz in der Welt woanders? Glasjew: Ich bin ganz zufrieden mit dieser Position, nur sollte Russland aktiver sein. Wir müssen uns effektiver am Weltmarkt beteiligen. Wir brauchen effizientere Wirtschaftsbeziehungen zu den westlichen Ländern. Das bestehende Kooperationsabkommen mit der EU funktioniert nicht wirklich. Russland sollte am europäischen Markt als gleichberechtigter Partner teilnehmen.

Standard: Russlands innenpolitische Entwicklung wird mit dem Begriff "manipulierte Demokratie" umschrieben. Manche meinen sogar, so viel Macht wie Putin seit den letzten Parlamentswahlen habe zuletzt nur Stalin gehabt. Glasjew: Das trifft natürlich nicht zu. Unser politisches System befindet sich im Entwicklungsstadium. Bevor Putin an die Macht kam, hatten wir die Jelzin-Diktatur. Putin versucht, demokratischere Spielregeln einzuführen, aber das ist keine Einbahnstraße. Andere Kräfte spielen dabei auch eine Rolle. Wenn sich etwa Parteien plötzlich zu einer einzigen Organisation zusammenschließen (gemeint ist die Fusion von Pro-Kreml-Parteien vor den Wahlen, Red.), dann ist es mit der Demokratie vorbei. Die haben das nicht gemacht, weil Putin es ihnen gesagt hat, sondern weil sie möglichst nah beim Präsidenten sein wollen, um ihre Privilegien zu wahren. Wir dagegen wollen einen echten politischen Wettbewerb unabhängiger Parteien. Und ich bin sicher, dass Putin das unterstützt. (DER STANDARD, Printausgabe, 21.1.2004)