Entschieden wird zwar erst kommenden Herbst. Für die Türkei scheint der Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen aber bereits jetzt in greifbarer Nähe. Nach dem Besuch von Kommissionspräsident Prodi in Ankara verhindert offenbar nur noch die ungelöste Zypern-Frage den Beginn des Aufnahmeverfahrens. Alle anderen Schwierigkeiten treten in der derzeitigen politischen Schönwetterlage kaum in Erscheinung.

Die Türkei hat in den vergangenen Jahren tatsächlich große Reformen (zuletzt etwa die Abschaffung der Todesstrafe) umgesetzt. Dennoch ist in Brüssel ihr Beitritt auch nach einer ZypernLösung für viele mittelfristig außerhalb jeder Realität. Der ehemalige EU-Parlamentspräsident Klaus Hänsch etwa sieht darin einen "Jahrzehnteprozess", weil in allen konkreten Fragen - Stichwort: Gleichstellung der Frauen - ideologische Grundsatzdiskussionen geführt werden müssten.

Umgekehrt stellt sich natürlich auch die Frage, ob denn die EU überhaupt reif für den Beitritt der Türken wäre. Nach dem jüngsten Verfassungsflop und angesichts der geopolitischen Implikationen, die ein EU-Land am Bosporus mit sich brächte, sieht es nicht danach aus. Ohne funktionierende Außen- und Sicherheitspolitik wären EU-Außengrenzen zum Kaukasus und zum Nahen Osten politischer Selbstmord. Außerdem: Der große Brocken Osterweiterung muss erst verdaut werden. Noch einmal 70 Millionen Menschen aufzunehmen überforderte die Union finanziell wie institutionell.

In Brüssel ist immer wieder zu hören, dass der Aufnahmeprozess viel wichtiger sei als das eigentliche Faktum einer türkischen Mitgliedschaft. Dass es niemand für notwendig hält, den Türken dies ohne Umschweife zu sagen, ist ein Fehler. Diese Verlogenheit wird es nicht einfacher machen, Ankara irgendwann einen Sonderstatus statt der Vollmitgliedschaft anzubieten. Auch insofern ist die Union nicht reif für die Türkei. (DER STANDARD, Printausgabe, 17.1.2004)