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Die Copacabana

apa/dpaHorst Ossinger

Aussicht vom Hotel Le Meridien

Foto: Le Meridien
Die Erinnerung schneidet Postkartenfenster ins Gedächtnis, und wenn man Glück hat, darf man irgendwann wieder zurückkommen zu Orten einstiger Geschehen und noch einmal durch diese Fenster schauen. Die Reise in die eigene Vergangenheit ist ein riskanter Trip. Wenn die Erinnerung lügt, zerstört die Wirklichkeit das schöne Bild. Was bleibt dann übrig?

Doch Rio ist ewig, und Gott ist Brasilianer, und alles ist auch nach zwanzig Jahren noch da, alles in der richtigen Dimension, alles in den richtigen Perspektiven. Postkartenfenster überall, auch dort, wo man sie scheinbar vergessen hatte. Die Bilder der Stadt spielen Pingpong mit den Bildern der Erinnerung - es ist zum Taumeligwerden.

Bei knapp 40 Grad taut das eingefrorene Portugiesisch auf und verflüssigt sich langsam wieder. Der Mann im Flughafentaxi stutzt, er lacht: "Du sprichst ein seltsames Portugiesisch. Du sprichst das Portugiesisch eines Kindes. Was ist mit dir passiert?" Nichts. Ich bin nur zurückgekommen in die Stadt, in der ich als Kind ein paar Jahre gelebt habe und sehr zufrieden war.

Die ersten Wochen wohnten wir damals im Hotel, und weil Gott, der Brasilianer, die Container mit unserem Zeug aus der niederösterreichischen Kleinstadt über südostasiatische Irrwege in die Großstadt schipperte, wurden aus den Wochen Monate und schließlich ein halbes Jahr. Ein gesegnetes halbes Jahr in einem fetten, großen Hotel an der Copacabana.

In einem 37 Stockwerke hohen modernen Stahlbeton-Glas-Konstrukt, mit Rolltreppen, Hinterfluren, ideal zum Bodenturnen geeigneten verlassenen Bankettsälen, enormen Hotelküchen und rasanten Aufzügen, die man durch gezieltes Hüpfen zu sekundenlangem Stillstand bringen konnte. Ein Universum für ein Landpomeränzchen wie mich, bevölkert von ständig wechselnden, hin und her eilenden Touristenscharen - und ansonsten von den freundlichsten Menschen der Welt, die sich die Zeit nahmen, uns Kinder rund um die Uhr mit Gute-Nacht-Bonbons zu versorgen und uns unter Zuhilfenahme ausholender Gebärden erste Portugiesischfetzen beizubringen.

"Wie ist das Meer in Österreich?" "Es gibt keines." "Das muss ja furchtbar sein."

Während sich auf den prächtigen eisgekühlten Korridoren und Foyers, in den tropenholzgetäfelten Hotelcafés, Bars und Edelsteinshops tagtäglich die gleichen touristischen Szenen vor der atemberaubenden Kulisse der Copacabana abspiel-

ten, tauchten wir durch Tapetentüren ab in eine heiß-stickige fensterlose Hotelgegenwelt, die sonst nie ein Gast zu Gesicht bekommt. Vorne wurden Koffer an-und abtransportiert, Bleiche kamen, Braungebrannte gingen. Hinten blieb die Welt unter Neonsonnen konstant. Kein Luxus, aber auch keine Hektik, und viel Gescherze, viel Herzlichkeit.

Wir schlossen wichtige Freundschaften mit Köchen, Zimmermädchen und Hausmeistern. Manche von ihnen besuchten wir noch, als wir längst nicht mehr hier wohnten. Wir besuchten sie auch dort, wo sie selbst wohnten, und an der Copacabana war das nicht.

Zwanzig Jahre später ist die Zona Sul, die Strand-Prachtseite Rios, immer noch der einzige Teil der Stadt, den die überwältigende Mehrzahl der Touristen sieht. Zwanzig Jahre später liegt die Lobby des Hotel Meridien an der Avenida Atlântica völlig unverändert, gewissermaßen konserviert in der Eisluft der Klimaanlage. Das rot-schwarz-spiegelige tennisplatzgroße Wandrelief schnalzt noch eine vermeintlich vergessene Postkarte ins Hirn, und durch die Nase kriecht ein Geruch aus der tiefsten Vergangenheit, der plötzlich lebendig und gegenwärtig ist. Sogar das Gebimmel der Aufzüge klingt wie aus einer anderen, untergegangenen Welt, die seltsamerweise wieder betreten werden darf.

Irgendwie hört dieser Trip nicht auf. Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Wir bewegen uns jetzt mit der arroganten Präsenz der Erwachsenen in jenen Bereichen, die wir als Kinder so gut wie nie betreten hatten, in den Bars, Cafés, Shops dieses schönen Hotels. Plötzlich ist erlaubt, was verboten, und verboten, was einmal selbstverständlich war. Die Pfade in die Hinterwelt sind noch da, aber wir können sie nicht mehr gehen. Durch Hoteltapetentüren schlüpft man ungestraft nur als Kind, heute würde man uns des Voyeurismus zeihen. Wir sind Teil des anderen, offiziellen Systems geworden, und die Herzlichkeit hat sich zur distanzierten Freundlichkeit abgekühlt. Das Hotel wird zur Kulisse, hinter der die eigene Vergangenheit zuhause, aber nicht mehr daheim ist.

Manche Dinge ändern sich allerdings nicht: Gott, der Brasilianer, hat uns diesmal drei Tage lang mit Stürmen und Flugzeugverspätungen quer über den europäischen und nordamerikanischen Kontinent gejagt und das Gepäck einmal mehr spielerisch in anderer Herren Länder geweht. Wir stehen mit Wollpullovern im vollverglasten Hotelzimmer und starren auf die Postkarte der Postkarten, auf den Strand der Strände.

Die Copacabanawellen haben wie so oft die ideale Surfgröße. Drei, vier Meter hoch, und sie kommen direkt vom offenen Atlantik. Ein gutes Zeichen. Kämen sie von Nordwesten, brächten sie den ungeklärten Dreck der Guanabara-Bucht, der brutalen Gegenwelt zur schönen Zona Sul, kämen sie von Süden, wäre das Wasser braun und kalt.

Wie man sie durchtaucht und wie man mit dem Wellentunnel spielt, hatten uns die brasilianischen Kinder beigebracht. Das Meer liegt hinter gut 50 Metern brennheißem Sand - barfuß kaum machbar, aber was weiß man schon als Zugereister. Die Flip-Flops, ideale Strandtreter, wurden nicht von ungefähr in Rio erfunden, die knappsten Bikinis auch. Die Heiterkeit der Einheimischen angesichts meiner nabelhüllenden europäischen Variante war damals sehr ausgelassen.

In der Gegenwart erholt sich die Verkäuferin im Strandladen nur langsam von den olfaktorischen Effekten, die sich in drei Tage lang nicht durchlüfteten Turnschuhen entwickeln, wir flip-flopen derweil schon über den Sand und reiten die Wellen. Sie sind so gewalttätig und von uns unbeeindruckt wie eh und je, schöneres Smaragdgrün als im Hotelschmuckladen.

Eine knappe Woche später findet auch das Gepäck heim und darin ein sehr altes Adressbuch.

Eine Busfahrt durch Flamengo, am Maracana-Stadion vorbei und immer weiter. Keine Postkartenansichten hier. Dafür eine Postanschrift, vor vielen Jahren notiert. Francisca aus dem Meridien, die nicht lesen und schreiben konnte, hatte sie einer ihrer Nichten diktiert. Sie muss jetzt schon sehr alt sein, vielleicht lebt sie gar nicht mehr. Ich klopfe an, sie öffnet die Tür und schaut mich liebevoll, aber streng an: "Warum hast du nicht angerufen?", sagt sie, "Ich hätte etwas gekocht." (Der Standard/rondo/16/1/2004)