Wenn die Gegenwart als eine Abfolge spektakulärer Blitzpartien mit immer kürzeren Bedenkzeiten erscheint, gilt vielen als der wahre unleistbare Lebensluxus die Langsamkeit. Wie man ein Leben jenseits der Zeitnot führt und aus dem programmatischen Langsamsein sogar Erfolg und Anerkennung gewinnt, hat nun der Wiener Tunç Hamarat vorgeführt. Obwohl seine letzte Partie gegen den Russen Alexander Volchok noch nicht beendet ist, wurde Hamarat im WM-Finale vorzeitig vom Internationalen Fernschachverband (ICCF) zum 16. Weltmeister im Korrespondenzschach ernannt.

Der 58-jährige Physiker liegt mit sieben Siegen bereits uneinholbar in Führung. Er ist somit der erste Weltmeister im Schach, den Österreich nach Wilhelm Steinitz (1836-1900, Schachweltmeister von 1886 bis 1894) stellt.

Der Weg zum WM-Titel im Korrespondenz- oder Fernschach ist weit. Viele Partien erstrecken sich über mehrere Jahre, man hat fast unbegrenzt Zeit zur Analyse. Damit entstehen Partien von höchster Qualität. Eine erste Blüte erreichte das Fernschach mit dem Ausbau des staatlichen Postwesens im 19. Jahrhundert, doch bereits seit dem Mittelalter durchqueren die Nachrichten mit den seltsamen Kürzeln die Welt. Legendär ist die Partie eines Engländers gegen einen Australier: Die Partner wechseln pro Jahr nur einen Zug, ihre vor fünfzig Jahren begonnene Partie ist im Mittelspiel angelangt.

Wenn man weiß, dass der Aufstieg zum Weltmeisterthron mit allen Qualifikationsturnieren zwölf bis fünfzehn Jahre dauert, kann man die Leistung Hamarats ermessen. Doch auch im Fernschach zeigen sich die Boten der Beschleunigung. Züge werden nicht mehr per Post, sondern via E-Mail übermittelt. Ein ernstes Problem sind die immer stärker werdenden Computer, die zu Rate gezogen werden können. Allerdings erweisen sich die elektronischen Monster auf höchstem Niveau noch als recht unzuverlässige Ratgeber.

Tunç Hamarat verwendet keinen Computer und verlässt sich auf seine offenbar unbegrenzte Fähigkeit zur Analyse. Er wuchs in Istanbul auf, ist studierter Physiker und lebt seit 1972 in Wien. Seit 1963 spielt er Fernschach, er hat keine einzige Partie mit den weißen Steinen verloren. Dabei entspricht Hamarat so gar nicht dem Klischee des zurückgezogen lebenden Fernschachspielers. Er ist Jazzfan, arbeitete eine Zeit lang als DJ, geht gerne aus, reist viel, und neben Isaac Newton und Miles Davis bleibt noch Zeit für ein weiteres Spiel, Backgammon, das er ebenfalls großmeisterlich beherrscht. Ob Hamarat bei all diesen Aktivitäten noch zum Schlafen kommt, ist unbekannt. (ruf & ehn, Printausgabe, 15.01.2004, Renate Graber)