Foto: Stadtkino
Wien - Eka, Marina und Ada - Großmutter, Mutter, Tochter -, drei Generationen also, die sich im gegenwärtigen Tiflis eine Wohnung teilen, aufeinander angewiesen sind und doch eigensinnig ihre eigenen Vorstellungen durchzusetzen versuchen, bilden das emotionale Zentrum von Julie Bertuccellis Debüt Seit Otar fort ist/Depuis qu'Otar est parti.

In den engen, voll geräumten Zimmern, wo abends regelmäßig der Strom ausfällt, sind Spannungen garantiert, doch man trägt sie vornehm auf Französisch aus: Die Großmutter (verkörpert von der 90-jährigen Esther Gorintin) herrscht milde über ihr Reich, verteidigt Stalin gegen die Lügner, die ihm folgten, und weiß sich dabei der Aufmerksamkeit der anderen sicher; Ada (Dinara Drukarova), die Jüngste, studiert, aber eher unkonzentriert, und sie vermittelt zwischen Eka und Marina (Nino Khomasuridze), die heimlich den Familienschatz am Flohmarkt verscherbelt.

Präzise im Detail, behutsam im Tonfall erweitert Seit Otar fort ist seine Perspektive auf eine Welt der Frauen, die zugleich eine der Erinnerungen, der Sehnsüchte und nicht erfüllten Vorhaben ist - nicht von ungefähr liest Ada ihrer Großmutter aus Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit vor. Es sind jedoch vor allem Briefe von Otar, dem Sohn, der nach Paris gegangen ist, an denen sich Eka wie ein junges Mädchen freuen kann.

Erträumtes Paris

Als Otar eines Tages am Bau verunglückt, wird ihr dieser Schicksalsschlag denn auch verheimlicht. Ada führt die Korrespondenz aus Liebe zu ihrer Großmutter fort. Sie erträumt sich dabei auch selbst ein imaginäres Paris, während sie im Bus durch ein Tiflis fährt, in dem die ökonomische Misere transparent bleibt - ohne dass die Stadt je trist erscheinen würde.

Denn Bertuccellis Blick - eine Schülerin des georgischen Filmemachers Otar Iosseliani - reicht über Sozialrealismus hinaus. Ihre Wahrnehmung ist gleichsam mit jener der Figuren durchtränkt, warme Farben, ein feinsinniger Humor und eine Spur von magischem Überschwang verleihen Seit Otar fort ist mitunter eine entrückte Stimmung: das Verträumte eines sonnigen Nachmittags.

Die nicht verwirklichten Wünsche der drei Frauen bleiben dennoch stets im Mittelpunkt des Geschehens, wobei sich jede auf ihre Weise an Otar misst: Während sich Ada allmählich gedanklich von ihrem Dasein in Tiflis löst, überrascht Eka mit Eigeninitiative, fährt eine Runde mit dem Riesenrad und fasst bei zwei Zigarretten den Entschluss, ihren Sohn in Paris zu besuchen.

Die Konfrontation mit den eigenen und fremden Illusionen scheint in der Stadt, in der die drei in der Einbildung schon immer wohnten, dann unausweichlich zu werden. Doch Bertuccelli umgeht jede nahe liegende dramaturgische Auflösung und lässt es an den Figuren, ihre eigenen, überraschenden Konsequenzen zu ziehen.

Damit endet zwar die Suche nach dem Sohn für Eka mit einer unumstößlichen Wahrheit; Bertuccelli aber weiß um die Kraft des Imaginären, das in Paris mit einem Mal greifbar nahe erscheint, und so bedeutet dieser Verlust auch die Gelegenheit zu einem Neuanfang. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.1.2004)