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Foto: Reuters/Aziz
Frankfurt/Main - Die eigenen Kinder, die beste Freundin oder den Chef nicht erkennen, obwohl man ihnen mitten ins Gesicht sieht - schätzungsweise zwei Prozent der Bevölkerung können nicht spontan entscheiden, ob sie vor einem Bekannten oder einem völlig fremden Menschen stehen. Für Gesichtsblinde sei die Verknüpfung des Gesichts mit einer bestimmten Person deutlich erschwert, sagt der deutsche Mediziner Thomas Grüter, der selbst von der so genannten Prosopagnosie betroffen ist.

Während für andere das Gesicht das wichtigste Kennzeichen einer Person ist und sie innerhalb von Sekunden wissen, mit wem sie gerade sprechen, fehlt Betroffenen diese Sicherheit. Selbst den Lebenspartner könnten Gesichtsblinde nicht ohne weiteres aus einer Menschenmenge heraus erkennen, erklärt Grüter. Sie können Gesichter demnach zwar wahrnehmen und aus ihnen ebenso gut wie andere Menschen Gefühle lesen sowie das Alter und Geschlecht einer Person erkennen. Schwer wird es für sie aber, verschiedene Gesichter voneinander zu unterscheiden.

Vergleich

Vergleichen lässt sich Prosopagnosie am besten mit der Situation eines Europäers in Asien: "Das Modul für die Gesichtserkennung im Gehirn ist ganz genau geeicht, es kann Details bei anderen Rassen nicht auseinander halten", sagt der Wissenschafter. Daher sähen Chinesen oder Japaner aus europäischer Sicht zunächst jedenfalls alle gleich aus. "Ähnlich geht es einem Gesichtsblinden mit seinen Bekannten und Verwandten".

Unter 500 untersuchten Schülern und Studenten hat das Institut für Humangenetik in Münster laut Grüter elf Betroffene ausgemacht. Hochgerechnet trifft die Wahrnehmungsstörung damit etwa jeden 50. Deutschen, also mehr als eine Million Menschen allein in Deutschland.

Mögliche Vererbung erforscht

Während die erworbene Form der Gesichtsblindheit, beispielsweise nach einem schweren Unfall, schon länger bekannt ist, wird eine mögliche Vererbung der Krankheit am Humangenetischen Institut erst seit etwa eineinhalb Jahren erforscht. Erste Ergebnisse von DNA-Analysen erhofft Grüter in den kommenden sechs Monaten. Nach den bisherigen Erkenntnissen der Münsteraner Forscher sind Kinder von Gesichtsblinden mit etwa fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit ebenfalls gesichtsblind.

Und gerade Kinder werden wegen der Wahrnehmungsstörung schnell zu Außenseitern, weil sie in Kindergarten und Schule ihre Kameraden unter den anderen Kindern nicht bemerken. Sie finden in den ersten Wochen kaum Freunde und kennen außerhalb des Unterrichts auch ihre Lehrer nicht, sagt Grüter. Im Berufsleben kann ein Gesichtsblinder nicht entscheiden, ob er sich in der Kantine neben den Chef oder jemanden aus einer ganz anderen Abteilung gesetzt hat. Kommt eine Kollegin kurz ins Büro, um eine Nachricht abzugeben, kann ein Gesichtsblinder sie schon nach wenigen Minuten auf dem Flur nicht mehr ausfindig machen.

Probleme

Ihre Wahrnehmungsschwäche handelt Betroffenen außerdem häufig den Vorwurf ein, sie seien arrogant oder desinteressiert. Gesichtsblinde sähen anderen beim Gespräch nicht in die Augen und gälten daher schnell als unhöflich, sagt Grüter. Der Blickkontakt werde aber nicht bewusst vermieden, sondern schlicht vergessen, denn das Gesicht des Gegenübers sei für Prosopagnosie-Betroffene einfach nicht sonderlich wichtig.

Ob angeboren oder erworben, geheilt werden könne die Wahrnehmungsstörung nicht, betont Grüter. Betroffene könnten sich aber ganz bewusst auf Merkmale anderer Personen konzentrieren und Ersatzstrategien für das Wiedererkennen entwickeln, indem sie sich auf Gang, Stimme oder Größe einer Person konzentrierten. "Auch das In-die-Augen-Sehen kann dem Gegenüber zuliebe antrainiert werden. Das kann man lernen wie mit Messer und Gabel zu essen", sagt Grüter. Frisur und Kleidung sind dagegen leicht veränderbar und helfen wenig - ein neuer Haarschnitt, und Gesichtsblinde sehen einen völlig fremden Menschen vor sich. (APA/AP)