Manche Dinge fallen nur auf, wenn sie nicht funktionieren. Deshalb weiß kaum jemand, wer Nacht für Nacht dafür sorgt, dass die Standard-Abonnenten jeden Tag zum Frühstück die Zeitung auf dem Tisch liegen haben.

derStandard.at
Wien - Willhelm Hohn versteht nicht. "Hektik?", fragt der Mann mit dem roten Anorak, "wieso Hektik?" Und während er sich an der Heizkanone die Hände wärmt, wird er fast ärgerlich: Hektik, stellt Wilhelm Hohn fest, gibt es nicht: "Für Hektik ist hier kein Platz - sonst gibt es am zweiten Tag keine Zeitung vor der Tür."

Willhelm Hohn ist Heinzelmännchen. Oberheinzelmännchen: Er ist die Drehscheibe der STANDARD-Hauszustellung in Wien. Einer, der es schätzt, wenn keiner merkt, dass es ihn gibt. Schließlich denken die Leute nur dann darüber nach, wie ihre Zeitung zu ihnen kommt, wenn sie nicht da ist. Die Frage, ob sich je jemand bedankt habe, meint Hohn, stelle sich nicht.

Neun Tonnen Papier

Gegen ein Uhr, wenn das blaue Fernsehlicht hinter den Fenstern verlischt, beginnt tief im Wiener Arsenal die Arbeit. Um die Wellblechhütte hinter der Presse-Druckerei im dritten Bezirk werden dann 70.000 Zeitungen umgesetzt: STANDARD, Süddeutsche, Presse, Wiener Zeitung, Kleine Zeitung und FAZ, aber auch Falter und Furche.

Der Umschlagplatz ist der erste Knoten im Netz des Hauszustellvertriebes Redmail. Pünktlich um 1.30 Uhr bringt ein Konvoi von Lieferwägen Tausende STANDARD- Exemplare, die in Wien in der Nacht zugestellt werden. Binnen Minuten hat Willhelm Hohn per Gabelstapler die Zeitungspaletten so zurechtgelegt, dass die nun mit Autos aller Art anrückende Armee von - meist - turbantragenden Herren sie wieselflink umladen kann: Um zwei Uhr ist auch von Presse-Exemplaren, Wiener Zeitungen und ein paar Hundert anderen Printtiteln nichts mehr zu sehen. Neun Tonnen Papier sind auf dem Weg - bis sieben Uhr früh wird Willhelm Hohn in Bereitschaft sein - nur für den Fall. Am Ende des Tages, gegen neun Uhr und endlich daheim, gönnt er sich dann ein Frühstück. Mit Zeitung. Wenn sie vor der Tür liegt.

Der Springer

Bis dahin ist es noch ein Stück Arbeit. Und das, obwohl Lal B. schon einen ganzen Arbeitstag hinter sich hat. Aber als Koch, erklärt der aus dem indischen Punjab stammende Mann, verdiene er zu wenig, um seine Frau und seine beiden Kinder durchzubringen. Darum arbeitet er nebenbei als "Springer": Fünf Nächte pro Woche bringt er Zeitungen zu "Abwurfzonen" und "Depots". Zweimal jede Nacht. Und noch einmal in der Früh, um jene Zeitungen zu verteilen, die frühmorgens an Ämter und Firmen gehen.

Seine Frau, erklärt der Sikh, mache das unglücklich. Aber: "Anders geht es nicht." Sein Restaurantchef dürfe vom Zweitjob nichts erfahren: "Der schmeißt mich sonst raus. Bei einem Kollegen hat er es getan."

Hauszustellung ist indisch: An den nächtens zu Zeitungsaufteilzentren mutierten Plätzen vor Banken und Supermärkten warten fast nur Inder. Auch bei den ein paar Häuser weiter Krone und Kurier sortierenden "Mediaprint"-Zustellern. "Viele sind Akademiker", erklärt B. vor der Erste-Filiale in der Gumpendorfer Straße, "aber andere Jobs finden wir kaum."

Als Singh Hardep gegen halb vier Uhr sein Fahrrad in die ehemalige Druckerei in der Kaiserstraße schiebt, sind seine Kollegen schon weg: Der 21-jährige Flüchtling hat sich verspätet. Zum ersten Mal. Springer B. ist das peinlich - als würden Zeitungsleser merken, ob die Zeitung um 3.30 oder 4.15 Uhr auf der Türmatte liegt.

Um 2.30 Uhr waren 20 Inder aus der Nacht aufgetaucht. Jeder mit Fahrrad. Eine Bäckerei-Plastikkiste am Gepäckträger. Schweigend wurde sortiert. "Kälte ist nicht schlimm", erklärt der Springer, "aber Wind oder Regen. Da muss man oft einen Teil der Tour nochmals machen."

Nicht einmal der Auftritt eines verwirrten Mannes, der mit einer zusammengerollten Leinwand auf der Schulter und den Worten "endlich Licht - ich werde hier mein Bild fertig malen" im Raum steht, kann die Routine unterbrechen.

Falscher Turban

Nur als Fotograf Heribert Corn loslegt, stockt das Werkel: Ein Sikh - zuvor schon acht Stunden Küchenhilfe in einem Haubenlokal - bittet in akzentfreiem Deutsch darum, nicht fotografiert zu werden: "Ich habe den falschen Turban auf. Mit dem kleinen, den ich bei der Arbeit trage, will ich nicht gesehen werden."

Singh Hardep trägt keinen Turban. 66 STANDARD- und 56 Presse-Exemplare, elfmal die Salzburger Nachrichten, vier Kleine-, je drei Wiener und Neue Zürcher Zeitungen und einmal die Oberösterreichischen Nachrichten hat er im Körberl. Mit blinder Sicherheit flitzt er Stiegen hinauf und hinunter. Fünfmal die Woche. Für knapp 400 Euro im Monat. Manchmal, erzählt der Hindu, dessen Eltern aus dem Punjab nach Delhi gingen, als der Sohn vor den Unruhen nach Europa floh, komme noch die Morgentour dazu. Ein paar Euro extra.

Wien, sagt Singh, kenne er nur in der Nacht. Die Wiener gar nicht. Sie wüssten auch nicht, dass es ihn gibt. Obwohl sie ihn brauchen. Er legt ihnen täglich Zeitungen vor die Tür. (Thomas Rottenberg, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2.1.2004)