Was beim letzten Europa-Gipfel in Brüssel gescheitert ist, war wohl mehr als die Einigung über einen Verfassungspunkt. Der Anfang vom Ende des Projekts Europa, meinte ein Kommissar. Man könnte auch sagen: Die Luft ist draußen. Die Freude an Europa ist weg. Die große Utopie ist, zumindest vorderhand, aus dem Gesichtskreis der meisten Europäer verschwunden und hat einer faden Pflichtübung Platz gemacht. Wenn im nächsten Frühjahr die neuen Mitglieder beitreten, dann dürfte das, wenn die jetzige Stimmung anhält, kein Freudenfest werden, sondern auf beiden Seiten eher ein resigniertes Akzeptieren des Unvermeidlichen. War Europa überhaupt je eine Idee, die Massen begeistern konnte?

Teilweise schon. Ich erinnere mich an die Massenversammlungen im Herbst 1989 in Prag mit ihren spontanen Sprechchören. Neben "Freie Wahlen" und "Weg mit der Einparteienherrschaft" erklang da plötzlich auch, von Hunderttausenden skandiert, die Losung "Zurück nach Europa" - ein Slogan, der später im ganzen damaligen Ostblock übernommen wurde. Und als im darauf folgenden Frühling die Wiener Festwochen unter dem Motto "Offene Grenzen" eröffnet wurden und Gruppen aus Nachbarstaaten auf dem Rathausplatz tanzten und Musik machten, hatten viele Zuschauer Tränen in den Augen.

Diese Euphorie ist lange vorbei. Manche hatten sie nie geteilt. Lord Dahrendorf, wie die meisten Briten europaskeptisch, sagte vor einiger Zeit in Wien, die so genannte Europa-Idee sei etwas für Leute, die eine andere Ideologie verloren und überdies ein gebrochenes Verhältnis zu ihrer Nation hätten. Er dachte wohl an Menschen wie den deutschen Außenminister Joschka Fischer, enttäuschte Sozialisten und gebrannte Kinder des Nationalismus und Chauvinismus. Für sie war Europa in der Tat die befreiende Lösung: ein selbst gewählter Zusammenschluss der Völker des Kontinents, solidarisch und demokratisch, Garant gegen alle Dämonen einer unglücklichen Vergangenheit. Und die gemeinsame Verfassung sollte die Magna Charta dieses neuen Gebildes sein, Grundlage für einen europäischen "Verfassungspatriotismus", wie ihn Jürgen Habermas im deutschen Grundgesetz für die Deutschen anstelle des alten ethnischen Patriotismus beschworen hatte.

Dieser Traum ist mit dem Veto der Polen und Spanier gegen den Verfassungsentwurf vorläufig ausgeträumt. Sicher, der europäische Einigungsprozess ist deshalb nicht zu Ende. Europa hat schon viele Krisen überstanden, sagen die Pragmatiker. Aufs und Abs waren immer europäische Normalität. Irgendwie wird es weitergehen, vielleicht mit einem "Europa der zwei Geschwindigkeiten", mit einem Kern (wohl ohne Österreich) und einer Peripherie. Die gemeinsame Währung wird bleiben, die Wirtschaft wird sich weiter europäisieren. Die Blockierstaaten werden vielleicht mit der Zeit kompromissbereiter und die Drohung der Nettozahler, die Zahlungen zu reduzieren, wird möglicherweise nicht so heiß gegessen wie gekocht.

Aber Grundlage für einen europäischen "Verfassungspatriotismus" ist das alles keine. Und für ein vereintes Europa als glaubwürdiges Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten auch nicht. Die meisten Europäer sind, wie sich gezeigt hat, in erster Linie nach wie vor Nationalpatrioten, eine Tatsache, die manche Europafreunde wohl unterschätzt haben.

Um das zu ändern, brauchte es vermutlich große und mitreißende Politikergestalten, europäische Jeffersons und Madisons, die von allen europäischen Bürgern als ihre Vorbilder akzeptiert würden. Aber diese sind vorderhand nirgends in Sicht. (DER STANDARD, Printausgabe, 22.12.2003)