Foto: Hanser
Wie eine etwas zu fröhlich geratene Todesanzeige kommt der postum verlegte Band Campo Santo des im Dezember 2001 mit siebenundfünfzig Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommenen W.G. Sebald daher: dunkelgrauer Karton, in zartem Chamois der Umschlag, Autorname und Titel in grauen und violetten Lettern, darunter ein Schwarz-Weiß-Foto des Autors. Der Hanser Verlag erweist einem seiner besten Autoren die letzte Ehre.

Bevor Sebald zu Hanser kam, wurde er freilich jahrelang in Hans Magnus Enzensbergers bibliophiler "Anderer Bibliothek" verlegt, die wie gemacht schien für seine meistens mit Bildern versehenen, immer sehr gelehrten und zuweilen etwas altertümlich wirkenden Enzyklopädisten-Werke.

Der jetzt vorliegende Band Campo Santo, zusammengestellt von Sven Meyer, einem jungen Literaturwissenschafter, enthält einen Fragment gebliebenen Korsika-Reiseroman und eine Reihe von Essays, vor allem zur Literatur. Sein Heimatgebiet, meinte Sebald einmal, sei nicht der Roman, sondern die Prosa. Und er schreibt wunderbare Prosa, die zudem je älter, umso besser wurde: "reif, herbstlich" nannte sie Susan Sontag. Der vorliegende Band lässt das schön nachvollziehen, stammt doch der älteste Text über Handkes Kaspar aus der Mitte der 70er-Jahre und der jüngste aus dem Todesjahr des Autors. Fast alle versammelten Texte sind bereits andernorts erschienen: in germanistischen Fachzeitschriften, Literaturzeitschriften und Zeitungsfeuilletons - alle bis auf einen, der sich im Nachlass befand und dem Band den Namen gab: Campo Santo, heiliges Feld.

Von Friedhöfen, den unheilvollen Stätten der menschlichen Verwesung, handelt er. Ein Friedhof in Korsika war der Anlass seiner Entstehung, ein "Vorhof des ewigen Lebens", wie Sebald nicht ohne Sarkasmus schreibt, zumal der Platz eher den Eindruck eines "von der Kommune verwalteten, für den profanen Abraum der menschlichen Gesellschaft bestimmten Areals" macht. An diesem Unort entzündet sich die Sebaldsche Reflexions- und Assoziationslust, die "Vernetzungen" herstellt, "in der Manier der nature morte, anscheinend weit auseinander liegender Dinge". So schweift sie von kindlichen Todeserfahrungen zu korsischem Gespenster-Aberglauben und Bourdieuschen Entmystifizierungen und wäre wohl lange nicht so groß, wäre die Welt nicht so schäbig und der Mensch in seinem Tun und Reden nicht so widersprüchlich. Ein großer Aufdecker und Entzauberer, ein unerbittlicher Schilderer der menschlichen Depraviertheit und ein genauer Chronist der Zerstörung von Mensch und Natur ist Sebald.

Schon in seiner Dissertation hatte er sich anhand von Döblins Werk mit dem Thema befasst. Später widmete er sich der Beschreibung des Unglücks in der österreichischen Literatur von Stifter bis Handke - sicher ein ergiebiges Feld -, der Unheimlichen Heimat, die ebenfalls hierzulande anzusiedeln ist, um schließlich in Luftkrieg und Literatur die Leistungen und Versäumnisse der deutschen Nachkriegsliteratur nachzuweisen. Daneben seine vier großen Erzählwerke: Schwindel. Gefühle, Die Ringe des Saturn, Die Ausgewanderten und zuletzt Austerlitz. Auch sie letztlich allesamt Beschreibungen des Seins zum Tode.

Die großen Melancholiker der Literatur sind Sebalds Säulenheilige: Kleist, Hölderlin, Hebel, Robert Walser, Kafka, Canetti, Nabokov, Cioran, Améry, Grass, Bernhard. Wie sie schreibt er immer hart am Moralistischen streifende Protokolle der menschlichen Unvollkommenheit und Grausamkeit. Wie sie tut er das in einem preziösen Chronistenstil, dessen Satzbau das erschreckende Chaos der Welt, vor dem jegliches menschliches Erkenntnis- und Beschreibungsvermögen letztlich kapitulieren muss, nicht verdeckt, sondern bloßstellt.

"Je mehr einer", schreibt er einmal, "aus was für einem Grund immer, zu tragen hat an der der menschlichen Art wahrscheinlich nicht umsonst aufgebürdeten Trauerlast, desto öfter begegnen ihm Gespenster. Auf dem Graben in Wien, in der Londoner U-Bahn, auf einem Empfang, zu dem der Botschafter von Mexiko geladen hat, bei einem Schleusenhäuschen am Ludwigskanal in Bamberg, einmal da und einmal dort trifft man, ohne dass man es sich versieht, auf eines dieser irgendwie undeutlichen und unpassenden Wesen, an denen mir immer auffällt, dass sie ein wenig zu klein geraten und kurzsichtig sind, etwas eigenartig Abwartendes und Lauerndes an sich haben und auf ihren Gesichtern den Ausdruck tragen eines uns gramen Geschlechts."

Solcherart sucht Sebald nach Spuren einer anderen Welt in der diesseitigen und nach Fluchtmöglichkeiten aus ihr. Er findet sie in einer geheimnisvollen Nacht- und Schattenwelt, in "Levitationen", Epiphanien und engelhaften Wesen, die wenigstens für Augenblicke so etwas wie Glück gewährleisten. Es äußert sich in all dem vor allem eine unbändige Todessehnsucht, und doch ist Sebald letztlich auch ein großer Dennoch-Sinnsucher, denn was er betreibt, ist eine retrospektive Aufdeckung der "unsichtbaren Beziehungen, die unser Leben bestimmen". Und manchmal schaudert einen richtiggehend angesichts der Beziehungen, die er (wieder-)herstellt. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 20./21.12.2003)