Matthias Sindelar

Der Historiker Wolfgang Maderthaner, der sich seit Jahren mit dem Wiener Fußball beschäftigt, spricht über Matthias Sindelar und dessen reale Heldenrolle. Sindelar ist in die internationale Geschichte eingegangen als "der Mann, der sein letztes Tor gegen den Faschismus erzielte". Johann Skocek stellte die Fragen.

STANDARD: War der Fußballer Matthias Sindelar ein Faschist, der sich das arisierte Kaffeehaus des Juden Leopold Simon Drill unter den Nagel gerissen hat?

Maderthaner: Sicher nicht. Es ist allerdings nicht wirklich beweisbar. Er hat 1939 ein arisiertes Kaffeehaus gekauft, das ist sicher.

STANDARD: Eine entscheidende Frage ist offenbar, ob der Druck auf Drill, die Deportationen von Drills Sohn und der Besucher ins Konzentrationslager, auf Betreiben oder mit Wissen von Sindelar passierten?

Maderthaner: Ich sehe das ähnlich. Es gibt Hinweise, dass Sindelar in nicht ganz unbedenklicher Nähe der NSDAP stand. Er gab opportunistische Äußerungen ab, er war ja Tscheche und hat sich im März 1938 bei den Tschechen engagiert, für den Anschluss an Großdeutschland zu stimmen. Nach der Zukunft des ostmärkischen Fußballs befragt, hat er gesagt, dass die Kinder jetzt endlich zu essen kriegen und wenn sie körperlich gut beisammen sind, werde der Fußball eine große Zukunft haben.

STANDARD: War er Parteimitglied?

Maderthaner: Meines Wissens nach nicht, da wird man auch schwerlich was finden. Es gibt außerdem die Einschätzung der NSDAP-Leitstelle Favoriten, dass Sindelar offen judenfreundlich sei und seine Mutter und Schwestern nicht anders.

STANDARD: Die Beurteilung Sindelars wird offenbar von einer massiven Sehnsucht nach einem Helden beeinflusst?

Maderthaner: Interessanterweise wurden die zentralen Einschreibungen in die Figur Sindelar von jüdischen Emigranten, Alfred Polgar und Friedrich Torberg beispielsweise, geschaffen. Diese Bilder entsprechen der Sehnsucht nach einem volkstümlichen Helden. Sindelar ist bis heute trotz seiner Arisierung in der jüdischen Gemeinde ein Freiheitsheld. Dazu passen natürlich Tatsachen wie das Ignorieren der Lehrgänge mit der großdeutschen Nationalmannschaft. Der 2:0-Sieg Österreichs im Anschlussmatch im Wiener Stadion, in dem Sindelar ein Tor erzielte. Oder der Arisierungsakt, der sich lang und breit mit der Frage beschäftigt, ob Sindelars Schwestern, die eigentlich als unzuverlässig galten, nach dem Tod des Bruders das Kaffeehaus weiterführen dürfen.

STANDARD: Gibt es faktische Hinweise, dass Sindelar Druck auf Drill ausgeübt hat?

Maderthaner: Ich kenne keine. Fakt ist, dass 1941 Drill noch auf dem Papier Besitzer war, er war 1938 71 Jahre alt, er hätte das Kaffeehaus auf jeden Fall verloren. Die These, dass Sindelar Drill helfen wollte, indem er das Kaffeehaus erwarb und dafür einige Fäden zog, ist nicht beweisbar. Wie die Frage, ob er Drill zur Flucht verholfen hätte. Alles das ist durch Sindelars Tod für immer offen.

STANDARD: Kennen Sie einen Sportler mit vergleichbarem politisch-historischem Charisma?

Maderthaner: Nein. Der Stojaspal hatte ein Verfahren, weil er sich mit Selbstverstümmelung dem Wehrdienst entzog. Aber er hat nie daraus eine Geschichte gemacht.

STANDARD: Sindelar ist eine Legende und dennoch in seinem historischen Profil abseits vom Fußball merkwürdig blass?

Maderthaner: Wahrscheinlich war er ein Wiener, der sich’s auch gerichtet hat. Wir gehen da tief in den Alltag hinein, die Menschen wollten, mussten überleben, aus den vorliegenden Akten sieht man, welchen Druck ein totalitäres Regime auf die Menschen ausübt. Die Tschechen wären in der Endlösung ja die Nächsten gewesen, da musste der Tscheche Sindelar offenbar agieren. Und doch: die französische Sportzeitung L’Equipe hat 1998 ein WM-Sonderheft herausgegeben mit ewigen Fußballheroen. Sindelar kommt darin wirklich sehr prominent vor. Der Mann, der sein letztes Tor gegen den Faschismus erzielte. Die erste Frage des Chefredakteurs über Sindelar an mich lautete: War Sindelar Jude? (DER STANDARD Printausgabe, 19.12.2003, Johann Skocek)