Die russische Schizophrenie - zwischen Tradition und Moderne, zwischen großrussischem Nationalismus und Drang nach Europa - hat vielleicht keiner je besser zur Sprache gebracht als der russische Dichter und Diplomat Fjodor Iwanowitsch Tjutschew (1804- 1873) in seinem berühmten Vierzeiler: Verstehen kann man Russland nicht/ und auch nicht messen am Verstand,/ es hat ein eigenes Gesicht,/ nur glauben kann man an dieses Land!

Dieser Glaube wurde freilich bei den Duma-Wahlen wieder einmal, so wie in den Jahrzehnten nach Tjutschew, bitter enttäuscht. "Alles für Putin", hieß eine Schlagzeile in der FAZ am Vorabend dieser merkwürdigen Wahl. Doch es ging nicht nur um die Person Putins, sondern in Wirklichkeit um den Sieg der "Partei der Ordnung", nämlich des unter verschiedenen neuen Namen tätigen KGB, des Geheimdienstes.

Es war geradezu kafkaesk, zu hören, wie naive ausländische Beobachter (ja selbst Abgeordnete) in Rundfunkinterviews den Ablauf schilderten: ruhiger Verlauf, keine Wahlurnen gestohlen, Möglichkeit, zwischen mehreren Parteien zu wählen . . .

In Wirklichkeit wurden freilich die Weichen nicht nur für die Duma-Wahl, sondern auch für die gesamte politische Entwicklung im Lande am 25. Oktober mit der Festnahme von Michail Chodorkowski, dem reichsten Mann Russlands und Chef der viertgrößten privaten Erdölgesellschaft der Welt, unwiderruflich gestellt.

Der 40-jährige Unternehmer musste nicht deshalb über die Klinge springen, weil er, wie alle Oligarchen, nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Systems durch zwielichtige Praktiken seine "erste Million" verdient hatte, sondern weil er nach seinen fulminanten Erfolgen öffentlich gegen die weiterhin wuchernde Korruption auftrat und eine Zivilgesellschaft nicht zuletzt durch die Unterstützung von oppositionellen Gruppierungen aufbauen wollte. Kurz, er wurde durch seinen Reichtum, seine weltweiten Kontakte und seine persönliche Entschlossenheit eine Gefahr für die vom Putin-Klan angestrebte totale Verschmelzung von Geschäft und Macht.

Chodorkowski hatte allerdings, wie so viele andere vor ihm, die Härte und die Geschicklichkeit des in knapp drei Jahren zum allmächtigen Staatschef aufgestiegenen Putin unterschätzt. Die zwei wichtigsten Drahtzieher aus der "Jelzin-Familie", nämlich Anatolij Tschubajs, (noch) Chef der größten staatlichen Elektrizitätsgesellschaft, und der vor kurzem aus Protest zurückgetretene Kabinettschef des Präsidenten, Alexander Woloschin, hatten 1999 einen schwachen Nachfolgekandidaten für Jelzin gesucht, den sie nach Belieben instrumentalisieren könnten. Sie hatten sich, wie seinerzeit die Gegner Stalins, verrechnet. Der einstige KGB-Obrist brach aus dem fein gesponnenen Netz der Abhängigkeiten mühelos heraus. Er spaltete, isolierte und besiegte schließlich alle Oligarchen. Die schwachen demokratischen Gruppen rund um die Lieblinge des Westens, Grigorij Jawlinski und Boris Nemzow, haben ihn ja nie wirklich gefährdet.

Putin war, ist und bleibt ein Mann des Apparates. Ein Viertel der etwa 3500 führenden politischen, wirtschaftlichen und administrativen Positionen in Moskau wird von Geheimdienstlern bekleidet; im regionalen Apparat sogar 70 Prozent - laut bisher nicht dementierten Schätzungen der Soziologin Olga Krystanovskaja.

Das neue Russland unter Putin ist, ohne politischen Pluralismus und unabhängige Medien, auf dem Weg zu einem autoritären Mischsystem, d. h. mit einem relativ freien Markt in einem politischen und polizeilichen Rahmen, das Portugal unter Salazar, Spanien unter Franco oder Chile unter Pinochet ähneln dürfte. (DER STANDARD, Printausgabe, 11.12.2003)