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"Die Sintflut" auf einem Gemälde des 19. Jahrhunderts

Foto: Archiv

New York - Menschen flüchteten in Panik vor den Wassermassen, die den Bosporusdamm durchbrochen hatten. Mit der zweihundertfachen Wucht der Niagarafälle stürzte die Flut aus dem Marmarameer ins Schwarze Meer, das damals 150 Meter tiefer lag als heute. So habe sich die biblische Sintflut zugetragen, glauben die US-Meeresgeologen Walter Pitman und William Ryan. Andere widersprechen.

Forscher um den kanadischen Geologen Ali Aksu deuten den Durchbruch am Bosporus total anders. Das Wasser sei in umgekehrter Richtung geflossen, also vom Schwarzen Meer ins Marmarameer. Dabei sei es viel beschaulicher zugegangen als behauptet. Also doch keine Sintflut?

Aber natürlich, beharren Pitman und Ryan, die davon ausgehen, dass die Flut in die Zeit einer weltweiten Klimaänderung fiel. Nach dem Ende der letzten Eiszeit schwanden die Gletscher. Das Schmelzwasser erhöhte die Pegel der Ozeane um 130 Meter, acht Prozent der Landfläche versanken. Als das Mittelmeer vor 12.000 Jahren so weit angestiegen war, dass es sich ins Marmarameer ergossen hatte, dauerte es 4500 Jahre, bis auch der Bosporus überschwappte. Vor 7500 Jahren brach das Salzwasser mit der Sintflut ins Schwarze Meer, das bis dahin ein Süßwassergewässer war.

Aksu und seine Kollegen fanden im Marmarameer hingegen einen Sedimentfächer, wie er an der Mündung eines Flusses entsteht. Diesen hinterließ vor 10.000 Jahren der Wasserstrom des Schwarzen Meeres, als er in das zwanzig Meter tiefer gelegene Marmarameer überlief. Aksu zufolge hatte zuvor das Schmelzwasser von Flüssen das Schwarze Meer aufgefüllt.

Die beiden Forscherteams und weitere Experten trafen sich jetzt in der New Yorker Columbia University zu einem zweitägigen Schlagabtausch.

Im Zentrum standen dabei Sedimente, Sapropele, die sich vor 12.000 bis 7000 Jahren am Grund des Marmarameers abgelagert haben - schwarze Schichten, die sich anfühlen wie Erdnussbutter und riechen wie faule Eier: Tier- und Pflanzenreste, die nicht verwest sind, weil kein Sauerstoff an sie gelangte.

Laut Aksu sei leichtes Süßwasser aus dem Schwarzen Meer ins Marmarameer geflossen und habe sich wie ein Deckel auf das schwere Salzwasser gelegt, das daraufhin an Sauerstoff verarmt sei.

Aus anderer Richtung

Dem widersprach der Tübinger Geologe Michael Sperling. Zwar stimmt er mit Aksu überein, dass zur fraglichen Zeit Süßwasser ins Marmarameer eingeströmt ist. Es sei jedoch aus der anderen Richtung gekommen - aus dem Mittelmeer. Das habe die Analyse von Fossilien ergeben.

Zwischen den Sapropelen entdeckten Sperling und sein Team eine weitere Schicht. Sie ist hell und enthält keine verfaulten Lebewesen. Die etwa 8300 Jahre alte Schicht belege, dass das Wasser eine Zeit lang wieder gut mit Sauerstoff durchlüftet war. Ein Durchbruch des Bosporusdamms käme als Ursache infrage, denn die in das Schwarze Meer stürzenden Wassermassen hätten sauerstoffreiches Tiefenwasser aus dem Mittelmeer in das Marmarameer gesogen.

Also gut: Ryan und Pitman korrigierten das Datum - die Sintflut habe dann eben vor 8300 Jahren stattgefunden. Doch Sperling blieb skeptisch. Wenn die Flut so katastrophal gewesen sei, fänden sich im Marmarameer Spuren starker Strömung. Tun sie aber nicht. Anstieg des Wasserspiegels ja, aber gemächlich: also keine Panik und keine Sintflut.

Oder doch? Dort, wo das Schwarze Meer am tiefsten ist, wäre das schwere Salzwasser abgetaucht, um das Becken aufzufüllen - dort müssten Sedimente und Fossilien liegen, die Aufschluss über die Anfangszeit der Flut geben. Also will Ryans Team nun mit einem Tauchboot einige Schaufeln Meeresboden holen.

Vielleicht findet sich die Antwort aber auch in Russland: Jüngst tauchte umfangreiche Forschungsliteratur zum Schwarzen Meer auf, noch aus Sowjetzeiten. Diese wurde bisher von der Fachwelt ignoriert, weil sie nicht ins Englische übersetzt ist. Der russische Geologe Andrei Tchepalyga behauptet: Die Sintflut habe stattgefunden. Aber schon vor 13.000 Jahren, und nicht am Bosporus - die Kaspische See habe sich ins Schwarze Meer ergossen. Jetzt sind die Übersetzer dran. (Axel Bojanowski/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6./7. 12. 2003)