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Julia Franck: Lagerfeuer, €20,50/302 Seiten
DuMont, Köln 2003

Foto: Archiv
Eine Durchgangsstation, die zum vorläufigen Endpunkt wird: umzäunt wie das Land, aus dem man geflohen ist, umzingelt von Menschen, deren Schicksale dem eigenen ähnlich, aber doch ganz anders sind. In Berlin Marienfelde, in einem Notaufnahmelager, kreuzen sich in Julia Francks Roman Lagerfeuer gegen Ende der 70-Jahre die Wege von vier Menschen. Die Freiheit hatten sich zumindest drei von ihnen anders vorgestellt. Beschwichtigungen klingen nach Monaten des Aufenthaltes irgendwann nur mehr schal: "Wir sind hier im Lager, nicht im Westen."

Nelly Senff, eine ostdeutsche Chemikerin, die ihren russischen Freund und den Vater ihrer zwei Kinder unter mysteriösen Umständen verloren hat, sie flieht die Orte ihrer Erinnerungen. Im Vakuum des Lagers stellen zumindest diese ihr nicht mehr nach. Dafür allerdings Hans Plischke, ein kleingewachsener Schauspieler, der im Osten eine Leninstatue mit roter Farbe besudelte und vom Westen freigekauft wurde, und John Bird, ein amerikanischer Geheimdienstler. Die vierte der Hauptfiguren, aus deren unterschiedlicher Perspektive der Roman auch jeweils erzählt wird, ist die Polin Krystina Jablonowska, deren krebskranker Bruder im Westen operiert wird. Vier Romanstränge also, die ineinander greifen und die jeweils vom Profil und Innenleben der vier Ich-Erzähler getragen werden.

Julia Franck hat sich mit der Anlage ihres Romans viel vorgenommen. Bisher wurde die 1970 in Ost-Berlin geborene Autorin der breiten Riege jüngerer deutschen Schreiberinnen zugeschlagen, die sich vorzugsweise - und im Falle von Franck äußerst gekonnt (frühere Bücher: "Liebediener", "Bauchlandung") - mit der eigenen Generation beschäftigen. Ein historischer Roman aus der jüngeren deutschen Vergangenheit gehörte bislang nicht zu ihrem Repertoire. Die Verwerfungen der deutsch-deutschen Geschichte waren das Hauptthema einer früheren Generation.

Sie stehen auch in diesem Roman nicht im Mittelpunkt, auch wenn Franck, die selbst als Achtjährige nach der Ausreise aus der DDR ein Dreivierteljahr in Berlin- Marienfelde lebte, durchaus den Stoff aus eigener Anschauung zur Verfügung gehabt hätte. Franck liefert eine persönlich grundierte Gegen-Erzählung, und diese ist in sich politisch genug. Als Gegen-Geschichtsschreibung sollte man das Buch allerdings nicht missverstehen.

"Frei hatte ich sein wollen, und ich wollte denken und tun dürfen, was mir gefiel", schildert Hans Plischke seine Erwartungen vor der Ausreise. Doch diese Haltung verflüchtigt sich: "Ich wusste nicht mehr, was es war, was mir gefiel, und gemessen daran war mir auch der Sinn für die Bedeutung von Freiheit, für einen möglichen Inhalt von Denken und Tun abhanden gekommen." Das ist der deprimierende Grundton, der über Francks Roman schwebt und der mit den Verheißungen, die mit dem Westen verbunden sind, gründlich aufräumt. Der Flüchtlingshilfe stehen bei Franck Schmieranten vor, die CIA traktiert die Angekommenen mit endlosen Verhören. Von jener Frau, die den Grenzgang als Horrortrip durch das Wasser hinter sich hat, stellt sich später heraus, dass sie eine Stasi-Agentin ist.

Ohne das Leben in der DDR im Gegenzug zu idealisieren (oder zu ironisieren wie einige Romane der letzten Zeit), wirft Franck so einen Schatten auf das Land diesseits der Grenze. Begriffen wie Wohlstand oder Freiheit stellt dieses Buch geschickt das Leben im Lager gegenüber, und dieses ist härter, als jenes, das die Grenzgänger zuvor geführt haben. Wobei die beinahe schmerzhaften Lebensgeschichten vor allem deshalb so gut ineinander rasten, weil Franck mit ihrer nüchternen, klaren Sprache die Kunst der unaufgeregten Figurenzeichnung beherrscht.

Im Falle der Nelly Senff, der prima inter pares unter den Hauptfiguren, ist so eine Figur entstanden, die sich fast magisch durch das Geschehen schlängelt, erwartungslos und deswegen für die Leser umso anziehender. Projektionen ihrer Umgebung prallen an ihr ab wie die Munition von Schreckschusspistolen. Die Beziehungen, die sich zwischen Hans und John und ihr entwickeln, haben mit ihr beinahe nur an der Oberfläche etwas zu tun.

Neben den vielen Stärken dieses Romans, verblassen einige Szenen, die weniger gut gelungen sind (etwa die Verhörszene durch die CIA), von selbst. Mit Lagerfeuer hat sich Franck in die erste Reihe der deutschen Literatur vorgeschrieben. Wobei man vom weiteren Weg der Nelly Senff in Zukunft gerne mehr erfahren würde. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 6./7./8.12.2003)